Schatzkammer der russischen Literatur

Olga Martynova und Oleg Jurjew haben zwölf Essays übers Dazwischen geschrieben

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die in Sibirien geborene und im damals Leningrad genannten St. Petersburg aufgewachsene Olga Martynova für „Sogar Papageien überleben uns“ 2011 den Chamisso-Förderpreis bekam, hörten einige Leser dieses eindrucksvollen Romans vielleicht zum ersten Mal von Daniil Charms und seinem Kollegen- und Freundeskreis. „Die Oberiuten – wer waren sie?“, fragt die seit 1991 mit ihrem Mann Oleg Jurjew in Frankfurt am Main lebende Autorin in einem Essay mit dem schönen Titel „Das Leben hat über den Tod gesiegt, auf eine mir unbekannte Weise“. Dieser Titel ist natürlich, in der deutschen Übersetzung von Peter Urban, ein Zitat aus dem Werk des „exzentrischen Autors“, wie der 1966 in Leningrad geborene Vladimir Vertlib diesen Daniil Charms nennt. Und Olga Martynova fragt nicht nur, sie antwortet auch und skizziert das größtenteils düstere Schicksal dieser bis auf wenige Ausnahmen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts umgekommenen modernistischen Unsinns-Poeten, die nach 1950 und vereinzelt noch bis heute „Schutzpatrone vieler angehender Literaten“ geblieben sind. „Nach den Oberiuten kam eine lange sowjetische Nacht“. In dieser langen Nacht sind Olga Martynova und Oleg Jurjew zu herausragenden Kennern der Weltliteratur und speziell der russischen Poesie und Kultur geworden, was zweifellos entscheidend dazu beitrug, dass sie heute, ob in deutscher oder in russischer Sprache schreibend, zu den originellsten und geistreichsten Dichtern und Essayisten der Gegenwart gerechnet werden müssen. Der Ingeborg-Bachmann-Preis 2012 für Olga Martynova bestätigt dies eindrücklich.

Der Aufsatz findet sich in einem schmalen Buch mit dem sprechenden Titel „Zwischen den Tischen“. Nicht durchgängig, aber doch recht oft ergibt sich durch die Zusammenstellung – sechs Abschnitte, die jeweils aus einem Martynova- und einem Jurjew-Text bestehen – tatsächlich der im Untertitel des Büchleins behauptete „essayistische Dialog“. Mehrfach geht es um die reichhaltigen kulturellen Traditionen Russlands und ihre Spuren im spätsowjetischen Alltag. Damit ist keineswegs nur die Schatzkammer der russischen Literatur gemeint, über die man dennoch eine Menge Aufregendes und zur Lektüre Anregendes lernt. Nein, auch Geranien oder Fußballkommentatoren, der berühmte „russische Salat“ oder die ähnlich berühmte Datscha können zum Thema werden. Ein spannender Dialog widmet sich den überraschend intensiven Wechselbeziehungen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika. Olga Martynova schwärmt von Linz, der immer im Schatten Wiens stehenden oberösterreichischen Donaustadt. Aber sie schwärmt nicht nur: „In den deutschen Städten berichtet der Stadtführer […] ausführlich, wo, wie, und wie viele Juden dort einst lebten und an welchem Platz die niedergebrannte Synagoge stand. In Linz kein Wort, hatten sie nie Juden? Do-och, fre-eilich“.

Dass und warum die im September 1941 einsetzende 872-tägige Blockade Leningrads, die mehr als eine Million Zivilisten das Leben kostete, „eines der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“ war, erläutert Oleg Jurjew, nicht ohne auf hierzulande wenig bekannte Poeten wie Gennadi Gor oder Pawel Salzmann hinzuweisen. Und dass sich das Moskau des 21. Jahrhunderts trotz Kreml und Rotem Platz vollkommen anders anfühlt als die einstige Hauptstadt der UdSSR, führt Olga Martynova eindringlich vor Augen.

In seiner die lesenswerte Aufsatzsammlung beschließenden Dankrede für den Hilde-Domin-Preis 2010 reflektiert Oleg Jurjew das im Buchtitel angesprochene, für viele Chamisso-Preisträger relevante und besonders dieses deutsch-russische Autorenpaar einschneidend prägende Dazwischen-Sein: „Ich halte das für die dichterische und menschliche Grunderfahrung unserer Zeit – ins Exil zu gehen, im Exil zu leben, im Exil zu schreiben. Ich würde sogar zu sagen wagen, in der modernen, flüssigen Welt, die sich ständig ändert, ist jeder Mensch in dem einen oder anderen Sinne des Wortes ein Exilant“.

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Olga Martynova / Oleg Jurjew: Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog.
Bernstein Verlag Gebr. Remmel, Bonn 2011.
122 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783939431732

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