„Sie sagte, sie wolle alles aufschreiben, was Rosarius berichtete.“

Über Norbert Scheuers neuen Roman „Peehs Liebe“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mein Name ist Rosarius Delamot. Ich bin mit dem Delamot verwandt, der in Kall ein Friseurgeschäft hatte. Kathy, meine Mutter, schickte mich alle zwei Monate zu ihm in den Salon. Delamot schnitt mir und auch Kathy die Haare gratis, das heißt, mir schor er alle meine fuchsroten Haare, weil er meinte, dass mir eine Glatze am besten stehe. Danach schickte er mich gleich wieder raus, ihm ging mein ständiges Summen auf die Nerven, das in den ersten dreiundzwanzig Jahren meines Lebens meine einzige sprachliche Äußerung blieb.“

In diesen Anfangssätzen von Norbert Scheuers neuem Roman stecken bereits viele Motive und Themen, die diesen variantenreich und formal anspruchsvollen Roman ausmachen. Da ist an erster Stelle der Protagonist des Buches, Rosarius Delamot, dessen wahrhaft außergewöhnliches Leben der Hauptgegenstand von „Peehs Liebe“ ist. Dann ist da, stellvertretend für viele andere Konstanten, das Friseurgeschäft Delamot, dem Norbert Scheuer unter anderem Evros’ Kneipe, den Supermarkt und das darin befindliche Café zur Seite stellt, um dem Roman eine sehr lebendige und authentisch wirkende Atmosphäre zu verleihen. Und da ist Kall, der Ort in der Eifel, den der Autor bereits im Roman „Kall, Eifel“ von 2006 verewigt hat – mit „Peehs Liebe“ hat er ihn nun vollends in die jüngste deutsche Literatur eingeschrieben. Dieser Ort, der laut Wikipedia, einer Quelle, die auch Scheuer in seiner Danksagung explizit erwähnt, im Kreis Euskirchen liegt und cirka 12.000 Einwohner hat, ist also einerseits ganz real und nachprüfbar, andererseits ein nahezu mythischer Ort, eine literarische Landschaft wie vielleicht William Faulkners Yoknapatawpha County. Hier also wächst Rosarius auf, der Junge, dessen Wuchs sich viel Zeit lässt, der 23 Jahre lang nicht spricht, nur summt, der die Welt aufmerksam beobachtet, den Menschen genau zuhört, der beim Fußballspiel des örtlichen Vereins gern zuschaut und den Ball aus der Urft holt, um ihn den Spielern zurückzugeben.

Zuhören will er vor allem seiner Mutter Kathy, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben kämpft, putzt und in den Kneipen am Ort bedient. Doch was Kathy zu erzählen hat, saugt ihr Junge, der glücklicherweise vor Schmähungen und Beleidigungen weitgehend verschont bleibt, begierig auf, handelt es sich doch um Geschichten und Legenden um seinen sagenumwobenen Vater, der sich als Archäologe der Lebensaufgabe verschrieben hat, uralte römische Handels- und Militärstrassen, die vielfach überbaut und verschüttet wurden, wieder zu finden und entsprechende Karten davon anzufertigen. Und an diesem Punkt, bei diesem Motiv vollzieht „Peehs Liebe“ eine wunderbare Streck- und Beugebewegung, denn einerseits spielt fast das gesamte Buch in und um Kall (Norbert Scheuer schreibt in der Danksagung „Da ich selbst, wie auch Rosarius, kaum über die Eifel hinausgekommen bin,…“), andererseits lebt das Buch auch stark von den Reisen des Vaters, von den in einer Groteskschrift gesetzten Berichten, die den Leser auf wunderbare Weise in eine mythische, von wohl und fremd klingenden Namen durchsetzte versunkene Welt katapultieren: „Von Bosra im allmählich ansteigenden Gelände in südwestlicher Richtung über Thania nach Jericho, von dort ins Jordantal. Auf der Trasse des alttestamentarischen Königsweges durch das Wadi Mujib bis Charakmoba, wo sich der Weg bis Chirb-el-Dem in zwei Parallelrouten teilt.“

Dem Einen mag da Karl May einfallen, dem Anderen „Lawrence von Arabien“, jedenfalls schafft Scheuer hier eine schillernde Gegenwelt zu Kall, das jedoch nicht als triste Kleinstadt geschildert, vielmehr als reale Welt voller Rätsel und Wunder beschrieben wird. Denn mit Vincentini, einem Klinkenputzer und Schwerenöter sondersgleichen, der ein elektrisches Wunderheilgerät namens Perseus per Direktverkauf vor allem an libidinös unterforderte Hausfrauen verkaufen möchte, ist der junge, noch immer nur summende Rosarius ständig unterwegs, lernt die Eifel und die Menschen kennen und kann sich fortträumen. Norbert Scheuer zeigt mit diesem Roman, das man als versierter Autor, der seinem Stoff vertraut, auch fabulieren kann, ohne ein ziegelsteindickes Buch vorzulegen. Er erfindet so viele starke Figuren, schafft ein vielstimmiges Ensemble, das im Gedächtnis haften bleibt.

Vor allem zwei Frauen tragen maßgeblich dazu bei. Da ist natürlich die titelgebende Peeh, die eigentlich Petra heißt, doch Rosarius’ Handicap verkürzt diesen Namen ins Literarische. Als Kinder haben sie miteinander gespielt, auch wenn Peehs Eltern das nicht gern sahen. Dieses Plädoyer für die erste Liebe, die so wichtig ist und ein ganzes Leben tragen kann, ist dem Autor hervorragend gelungen, nie wird er kitschig oder süßlich, vielmehr verblüfft er durch erstaunliche Wendungen, etwa wenn er die Beiden in Rosarius’ kurzer Fußballerkarriere in Köln noch einmal aufeinander treffen lässt, eine Begegnung, die der Protagonist bis in die Erzählgegenwart hinein konserviert.

Und hier ist, neben den Reiseberichten des ominösen Archäologen und Rosarius’ eigenen Schilderungen und Erinnerungen, die dritte Erzählebene dieses leicht daher kommenden Buches, das so viele Facetten hat und so viele Brüche und gescheiterte Leben verzeichnet. Annie, die Krankenpflegerin, ist Rosarius’ letzte Frau, diejenige, die ihn im Heim nach seinem Schlaganfall pflegt, die durch ihn Hölderlins „Hyperion“ kennen und schätzen lernt, ein Buch, das Rosarius’ Leben geprägt hat und auch den vorliegenden Roman schon ab dem vorangestellten Zitat permanent durchweht. Und mit Annies Liebhaber, den sie Bellarmin, nach Hyperions Freund, nennt, hat Norbert Scheuer die Bedeutung des Hölderlintextes noch unterstrichen.

In der Figur des Bellarmin lässt er auch Rosarius’ Vater noch einmal aufscheinen, geht doch auch er, der als Student und Liebhaber nur eine Auszeit von seiner Bestimmung genommen hat, wieder weg, lässt seine Frau zurück. Reisen und Träume, Melancholie und Liebe, Freundschaft und Respekt, Vertrauen und Wärme sind die Begriffe, die „Peehs Liebe“ tragen, die Norbert Scheuers neues Buch zu einem sehr wertvollen und äußerst lesenswerten machen, zu einem literarischen Genuss, der doch ganz erdverbunden ist.

Titelbild

Norbert Scheuer: Peehs Liebe. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
223 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783406639494

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch