Schreiben gegen Dummheit und witzlose Vernünftigkeit

Achim Geisenhanslüke entwirft eine Poetologie des Nichtwissens

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Studien zum Verhältnis von Literatur und Wissen sind ein boomendes Gebiet der zeitgenössischen Literaturwissenschaft. Welches Wissen vom Menschen, von der Gesellschaft, von der Ökonomie oder von der Natur besaßen einzelne Autoren, klassische Werke oder auch ganze Epochen? Welche poetischen Darstellungsverfahren bestimmen die Wissensgewinnung oder Wissensvermittlung in literarischen oder in szientifischen Texten? Muss man literarische Texte als Ausdruck epochaler, tiefenstrukturell wirksamer allgemeiner Wissensordnungen begreifen? Oder funktionieren ästhetische Texte eher als Gegendiskurse zu den seit Michel Foucault oft als Diskurse oder ,Epistemen‘ titulierten basalen Wissensordnungen? Zu diesen Fragen an die Sprachformen des Wissens liegt eine Fülle von Untersuchungen vor.

Erstaunlich selten wurden bisher in den meisten derartigen Studien die Gegenbegriffe des Wissens gründlich untersucht und ausführlich dargestellt. Wie verhielten sich Philosophen oder Schriftsteller zum (unvermeidlichen) Nichtwissen über Welt und Menschen? Wie bewerteten sie individuelle oder kollektive Ignoranz, wie beschrieben sie Typen der Dummheit? Dieser gewitzten Frage nach der negativen Rückseite der Wissensdiskurse widmet sich der Regensburger Komparatist Achim Geisenhanslüke in einer Monografie, deren Untertitel eine Poetologie des Nichtwissens verspricht. Schon 2008 hatte der Autor gemeinsam mit dem Philosophen Hans Rott das vielversprechende, unendlich weite Feld der Ignoranz umrissen als Herausgeber eines Sammelbands über „Ignoranz.Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen“. Dass das Nichtwissen für Literaturwissenschaftler zunehmend interessant wird, belegt auch ein 2012 erschienener Sammelband von Michael Gamper und Michael Blies, zu dem Geisenhanslüke seine methodischen Überlegungen beitrug. Vor zehn Jahren hatte die New Yorker Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell ein fulminantes Buch über Stupidity vorgelegt, das mit Kant, Nietzsche, Hölderlin, Musil und Freud auch einige der von Geisenhanslueke verhandelten Autoren ins Zentrum stellte – und wohl als Startpunkt avanciert literaturtheoretischer Dummheitsforschung gelten darf. Ihre Einkreisungen negativen Wissens argumentierten dabei eher orientiert an der klassisch dekonstruktiven Sprachkritik von Heidegger, Derrida und vor allem von Paul de Man her, während Geisenhanslüke diskurshistorisch eher mit Foucault operiert.

Im Gegensatz zur in Amerika begründeten ,Agnotology‘ als der diskurskritischen Untersuchung bewusster und gezielter Verbreitungen falschen Wissens – etwa durch die Zigarettenindustrie oder durch interessierte Verbände, die die menschlich bewirkte Klimaveränderung leugnen – geht es einer Poetologie des Nichtwissens um die philosophischen oder literarischen Redeweisen über das Nichtwissen, um persönliches (Un-)Vermögen des Nichtwissens (vulgo: um die Dummheit) sowie um Figuren wie Idioten, Irre, Dummköpfe oder Narren. Eine der Basisannahmen lautet, dass die Literaturgeschichte ein reichhaltiges Archiv der Figurationen des Nichtwissens und devianter Formen des Erkenntnisstrebens darstelle; eine weitere, dass das Reich des Nichtwissens zwangsläufig viel umfangreicher sei als der Bereich des Gewussten. Schon der Aufklärer Locke erklärte, dass die Nacht des Unwissens weit größer sei als der Bereich des vom Licht der Vernunft Erklärten.

Unerschrocken gegenüber den Herausforderungen gelehrten Sprechens über Dummheit sichtet und kommentiert der Komparatist Geisenhanslüke einen weiten Bogen abendländischer Texte von den Vorsokratikern und antiken Tragikern bis zu Jorge Luis Borges und zum Kultfilmer David Lynch. Sein Mut zum großen historischen Panorama versorgt den Leser mit einem Grundlagenwerk. Dieses übertrifft Lutz Walthers Reclam-Anthologie „Lob der Dummheit“ nicht nur im Hinblick auf einbezogene Texte (etwa der antiken Tragödien oder des Prometheus- und Epimetheus-Mythos), sondern auch im Hinblick auf seine Analysen, Reflexionsfiguren und Funktionsbestimmungen der Dummheitsdiskurse. Geisenhanslüke lehnt sich dabei oft an Foucaults Suche nach einem ausgeschlossenen ,Anderen der Vernunft‘ an oder an Adorno/Horkheimers Philosophem einer Dialektik der Aufklärung. Erklärtes Ziel seiner Poetologie des Nichtwissens ist es, die Abgrenzung zwischen Wissen und Nichtwissen durchlässiger zu machen und zudem zur „kritischen Revision des Herrschaftsanspruchs der modernen Vernunft“ beizutragen.

Die materialreiche Studie ist in drei historische Großkapitel gegliedert. Sie hebt an mit der Sattelzeit um 1800, aus der John Locke, Kant und Jean Paul als Theoretiker der Erkenntnis wie der Ignoranz präsentiert werden. Ihnen werden Interpretationen von Texten Karl Philip Moritz’, Matthias Claudius’, Johann Peter Hebels und Hölderlins zur Seite gestellt. Der Mittelteil führt in Antike und in die Frühe Neuzeit zurück, indem er Sokrates, ferner die Mythen um Prometheus sowie Antigone als Polemiken zwischen Wissen und Nichtwissen liest. Zudem erörtert diese historische Vorgeschichte der Moderne Francesco Petrarcas Bergbesteigung und seine Unwissenheitsschrift neben Rabelais’ Grotesken und dem Faust-Mythos als genuin neuzeitliche Paradigmen der Relationierung von Wissen und Unwissen. Das letzte Drittel ist dem 20. Jahrhundert gewidmet, wobei Freuds Schrift „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“, Musils Aufsatz „Über die Dummheit“ und Wittgensteins Grenzbestimmung von Sprache und Wissen als theoretische Marksteine fungieren, denen mit Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Jorge Luis Borges’ Labyrinth-Fiktionen und David Lynchs filmischer Rätselfiktion kapitale Kunstwerke als Orte der Verhandlungen von (Un-)Wissen folgen. Die Fülle der versammelte Theoreme und Fallstudien kann hier weder zur Gänze referiert noch im Detail kommentiert oder kritisiert werden, so dass ich mich auf die Erwähnung weniger Höhepunkte und einige Nachfragen beschränken werde.

In der „Kritik der reinen Vernunft“ definiert Kant die Dummheit als einen Mangel an Urteilskraft. Urteilskraft fällt für Kant mit dem ,Mutterwitz‘ ineins und dieser beruhe auf Talent. Er könne mithin nicht gelernt werden – was die Möglichkeit einer Dummheit der Gelehrten (aus Mangel an Mutterwitz) eröffnet. 1764 verfasste der Königsberger Philosoph seinen kleinen „Versuch über die Krankheiten des Kopfes“, in dem er erstmals eine Typologie geistiger Defizite entwirft, die den Tropf vom Schelm und vom Einfältigen (Pinsel) unterscheidet. Hier wurde ein nuancenreiches Begriffsrepertoire vom Aberwitz über den Wahnwitz zum Wahnsinn und Blödsinn und darüber hinaus entworfen; gleichsam als kleine Enzyklopädie der Nichtwissenden. Kants Ideal in dieser vorkritischen Schrift ist die Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft, wobei ein moralisch guter Mensch seinem Ideal besser entspricht als ein kluger Weltmann im Sinne Gracians. In seiner späten „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ entfaltet Kant erneut fein gestaffelte Unterscheidungen von Dummheit und Witz und ihren je spezifischen Ausprägungen.

Für Kant wie für Jean Paul verfügt gerade der Poet über Witz als Fähigkeit der Verähnlichung diverser Dinge. Der Poet ist somit der Gegenpol zum stumpfen Kopf; allerdings läuft er Gefahr, sich durch eine ungezügelte Einbildungskraft dem Wahnsinn als einem vernunftlosen Enthusiasmus zu nähern. Aus Kants Verhältnisbestimmungen von Metaphysik und Ästhetik gewinnt Geisenhanslüke drei Grenzfiguren der Vernunft, die seine folgenden Lektüren leiten: die Einfalt, die bei Kant den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik verkörpere; das Monströse, das aus dem Zusammenstoß des Menschen mit der Größe der Natur resultiere und schließlich das Phlegma, das eine positive oder negative Leerstelle zwischen den Ansprüchen ethischer Vernunft und dem Vermögen ästhetischer Urteilskraft einnehme. Dem Lob der Einfalt folgt das Buch in eindringlichen Interpretationen von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten „Kannitverstahn“ und „Die drei Diebe“ und von Friedrich Hölderlins spätem Gedicht Blödigkeit. Matthias Claudius’ berühmtes „Abendlied“ leiste Angstabwehr, indem es die Todesangst bewältige durch Gottvertrauen und durch ein Lob der Einfalt, das verstanden wird als Absage an die modernen Wissenschaften. Karl Philipp Moritz’ Studien zur Erfahrungsseelenkunde verhandelt Geisenhanslüke unter der Überschrift einer Poetik des Monströsen. Aufschlussreich ist sein Vergleich von Moritz’ Fallstudien mit den komischen oder dummen Käuzen in den Romanen Jean Pauls.

Ein originelles Zwischenkapitel über ,Müde Helden‘, referiert die gegensätzlichen moralischen und ästhetischen Bewertungen, die Aristoteles und Kant dem Phlegma zukommen ließen. Es schildert die Erschöpfung prominenter literarischer Figuren wie Wilhelms Raabes Stopfkuchen, Iwans Gontscharows Oblomow und diverser Anti-Helden Kafkas. Kafkas Figuren finden sich häufig im Bett wieder. Oder sie sind, wie der Landvermesser in „Das Schloss“, von einer unendlichen Müdigkeit gekennzeichnet, die Geisenhanslüke mit Alain Ehrenbergs aktueller Theorie des depressiven, erschöpften Selbst in Verbindung bringt. Diese (spät)moderne Schwächung des Selbsts wird in Becketts Romanen gesteigert zur forcierten Vergesslichkeit oder Selbstauflösung der Erzählerfiguren.

Im Mittelteil geht der Regensburger Literaturwissenschaftler hinter Kants moderne Verhältnisbestimmung von Witz und Dummheit zurück und bespricht das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen in der antiken Philosophie und Tragödie. So instruktiv und scharfsinnig seine Interpretationen auch hier wieder sind, so bleibt das diskurshistorische Verhältnis von Antike und Moderne doch etwas unterbeleuchtet. Nicht zuletzt, weil das Mittelalter gar nicht thematisiert wird und die Verhandlung der Renaissance mit Petrarca, Rabelais und ein wenig Shakespeare recht schmal ausfällt. Die historischen Transformationen, die Epochenübergänge oder Epochenbrüche werden (im Gegensatz zum Leitbild Foucault) im Gang der Abhandlung nicht recht deutlich. Die Einsätze erst mit Locke und Kant, dann mit Sokrates, den Tragikern und Nietzsche, schließlich mit Freud und Musil als Referenzen des 20. Jahrhunderts stellen nicht ganz klar, ob es spezifische Epistemen einzelner Epochen gab, die für systemische Profilierungen des Status’ und der Figuration des Nichtwissens sorgten. Freilich sind dies Fehlstellen, die der große Wurf überhaupt erst aufreißt. Wer sich bescheiden auf Kant, Freud, Wittgenstein und die Moderne beschränkte, hätte solche Einwände erst gar nicht provoziert – und hätte doch viel weniger geboten. Als Vignetten einzelner Philosophen und poetischer Charaktere der Dummheit und des Nichtwissens gelingen sehr plastische Szenen der Interdependenz von Wissen, Witz und ihren ignoranten Gegenpolen.

Als historische Urszene der Ignoranz-Reflexion wird das schlaue Sokratische Eingeständnis eigenen Unwissens in der Auseinandersetzung mit den Sophisten eingeführt – mit Walter Benjamins Kritik an dieser strategischen, rhetorischen Position und mit Nietzsches ethischer Kritik an Sokrates wird dieser Auftakt sogleich hyperkritisch kommentiert. Nietzsche entdeckte in der Tragödie einen „Pessimismus der Stärke“ als Gegenprogramm zu Sokrates’ Optimismus der Wissenschaft und Vernunft. Seine Aufwertung des Nichtwissens im Namen des Lebens oder der Kraft, sein Lob der Lüge im Rahmen seiner Genealogie des Wissens und der Moral und seine Platonkritik machen Nietzsche (nicht nur für Foucault) zu einer zentralen Bezugsgröße moderner Modellierungen des Wissens, seiner Kosten und seiner Gegenpole. Als Mythos über die Genese von Wissen und von lästigen Dummheitsfolgen fungiert bei Geisenhanslüke Hesiods Narrativ des Brüderpaars Prometheus (der den Menschen das Feuer und Erkenntnis bringt) und Epimetheus, der die Büchse der Pandora trotz Warnungen entgegen nimmt und öffnet. Schließlich wird der antike Antigone-Mythos gedeutet als Tragödie massiver familiärer Missverständnisse.

Eine originelle lacanianische Lesart der unvermeidlichen Dummheit der Liebe und der systematischen Ignoranz des sprachlich nicht fixierbaren Begehrens wird an Shakespeares Komödien aufgezeigt. In ihnen werde das Wort zum „Kampfplatz zwischen der Dummheit der Liebe und dem Witz“, der in der Eingrenzung dieser Dummheit notwendig scheitere: „Der Sprachwitz, der Love’s Labour Lost wie keine andere Komödie Shakespeares auszeichne, verdeckt eine ernste Angelegenheit, die völlige Leere der Dummheit, die sich hinter der Liebe verbirgt. Alle Selbsterkenntnis kann dem nicht abhelfen. Berone weiß um seine eigene Narrheit“.

Goethes „Faust“ wird zum letzten Mythos der Moderne erklärt. Der Weimarer gestalte seinen Protagonisten als Helden eines maßlosen Wissensdursts. Faust werde charakterisiert als Melancholiker mit unstillbarem Erkenntnisdrang, der sich eingangs seines Nichtwissens (trotz höchster Gelehrtheit) schmerzlich bewusst ist. Mephisto präsentiere sich als ein witziger Sanguiniker, der als Ironiker um die Grenzen allen Wissens Bescheid weiß. Geisenshanslükes knappe Bemerkungen zu Goethe leuchten das weniger tragische als komische Wissensthema des Großdramas nicht besonders eingehend aus. Ausführlicher als Goethes „Faust“ wird Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ kommentiert. Summierend heißt es über die beiden herausragenden deutschen Faust-Dichtungen: „Seine Vollendung findet der Fall in das Nichtwissen in der geistigen Umnachtung, mit der Thomas Mann seine Überführung der Gelehrtenvita in eine tragische Künstlerkarriere abschließt. Wie kein anderer Text aber verdeutlicht schon Goethes „Faust“, dass dem Wissen durch das Nichtwissen eine Grenze gesetzt ist, die es immer nur punktuell überschreiten kann. Die Tragödie Fausts, wenn es denn eine gibt, ist die Potenzierung des Unwissens durch jeden Schritt, den das Wissen nach vorne tut. Darin ruht nicht nur die Modernität des Stoffes, die Valéry und Thomas Mann zu ihren kritischen Umschreibungen des Mythos angeregt hat, sondern ein genuin komischer Zug, den Nietzsche treffsicher aufgespürt hat und dem Freud in seiner Schrift über den Witz nachgegangen ist.“

Eingehender werden Gustave Flauberts ridiküle Gelehrtenkretins Bouvard und Pecuchet kommentiert, die auf monströse Art normal und durchschnittlich seien und die bürgerliche Dummheit des 19. Jahrhunderts verkörpern sollen. Ihre enzyklopädische Wissensbegeisterung führt zu zahlreichen blöden Projekten, ohne dass sie die modernen Wissenschaften auch nur annähernd begreifen könnten.

Die sogenannte Ignorabimus-Debatte, ausgelöst von Emil Dubois-Reymond, thematisierte im späten 19. Jahrhundert die Grenzen der Erkenntnis von Natur und Bewusstsein. Sie wurde dann von Walther Rathenaus eigentümlicher Geist-Philosophie aufgenommen. Die wiederum von Robert Musil verspottet wurde, vor allem im satirischen Porträt seiner Arnheim-Figur als pseudoklugem Großschriftsteller. Musil hielt zudem 1937 auf Einladung des Werkbundes in Wien eine Rede „Über die Dummheit“. Diese schloss an Graciáns Klugheitsregel an, die vom taktischen Vorteil des Sich-Dümmer-Stellens ausgeht. Musil konstatiert das Fehlen einer Theorie der Dummheit und versucht, gegen die damals mächtig auftrumpfende Dummheit die angemessene Herrschaft des Geistes zu behaupten. Moosbrugger, den Gewaltverbrecher mit fraglicher Zurechnungsfähigkeit im monumentalen „Mann ohne Eigenschaften“, liest Geisenhanslüke als Janusseite des Möchtegern-Genies Ulrich.

Sein Kapitel über Witz und Dummheit bei Freud betont die Schwierigkeit, überhaupt Witztheorien zu formulieren angesichts der Vielfalt und Singularität von Witzen. Wie schon von Samuel Weber herausgearbeitet, wird der Witz bei Freud verstanden als markiert von Momenten des Nichtwissens beim Witz-Produzenten. Mit Jean Pauls Gegenüberstellung von Witz und Erhabenem verwandt (doch nicht deckungsgleich) sei Freuds Funktionszuweisung an den Witz, der als Antidot zum Erhabenen wirken könne: „Wo sich das Erhabene bei Kant ganz der Einfalt der Moral hingibt, da ist der Witz bei Freud Ausdruck von Klugheit und List, die sich gegen die Anmaßungen der Vernunft zur Wehr zu setzen versuchen.“ Das Nichtwissen sei bei Freud (im Gegensatz zu Kant) ,von der Dummheit in den Witz gewandert‘, wie der Komparatist beobachtet. Die Witzkommunikation wirke als trickreiche Subversion gegen die Kulturzumutungen der Befriedigungsversagung.

Wittgenstein ist neben Freund und Musil der dritte theoretische Kronzeuge im Schlusskapitel. Sein Denken vom Früh- bis zum Spätwerk wird verstanden als analytische Grenzbestimmung von Logik, Wissen und Sagbarem. „Die Überwindung des Nichtwissens liegt nicht in einem schlecht begründeten Begriff des Wissens. Eine Grenze findet das Nichtwissen vielmehr im logischen Nachweis des Unsinns, der einem Problem zugrundeliegt, und in der moralischen Anerkennung eines Wissens, das sich jenseits der Gegenüberstellung von Wissen und Nichtwissen befindet. Im Labyrinth der Sprache kann sich nur der auskennen, der weiß, dass er in einem Labyrinth ist.“

Nicht nur Borges sondern auch Foucault wird als Schöpfer einer artistischen Enzyklopädie des fiktionalisierten, poetisierten Wissens ausgerufen. Diese Autoren produzierten Theoriewerke oder Labyrinthfiktionen, die eine Verabschiedung des realen Wissens implizieren. Anstelle einer Poetik des Wissens setzten die beiden eher eine „Poetik des fiktionalen wie realen Nichtwissens“.

Den Schluss dieses vielfältigen Parcours bildet ein Kapitel über Szenen und Figuren des Unheimlichen, das mit Freuds Deutung des Unheimlichen als einem Verdrängten, allzu Heimlichen aus E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Erzählung hergeleitet wird und gipfelt in Interpretationen von David Lynchs Filmen und seiner Fernsehserie „Twin Peaks“ als Meisterwerken der Postmoderne. In denen gehe es um die Verabschiedung der handelsüblichen Lösungsstruktur von Detektivgeschichten, indem die Verrätselung immer weiter getrieben wird, so dass am Ende die Strafverfolgungsorgane selbst vom Bösen besessen sind. Lynchs Filme seien „Allegorien vom Ende des Wissens“. Sie negierten im Medium des Filmischen dessen verführerisches Grundgesetz der Evidenz des Sichtbaren.

Eine anregende Notiz zur Methode findet sich im kurzen Resumé der eindrucksvollen Studie: Nicht der – wissenschaftlich kaum direkt erkundbare –begriffliche Gegensatz von Wissen und Nichtwissen stand im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die deutlich anschaulicheren Figuren von Dummheit und Witz. „Mit ihrer Hilfe ließ sich eine Dialektik zwischen Wissen und Nichtwissen entfalten […], die zeigt, dass die kulturellen Figurationen des Wissens stets auf das Nichtwissen als ihre unhintergehbaren Begleiter angewiesen sind.“ Eine Art epistemischer Moral wird angedeutet mit Verweis auf Rabelais’ Kultur des Lachens. Dessen groteskes Fabulieren wird gelobt als eine Weise des Umgangs mit dem Nichtwissen, das die Furcht vor dem Unbestimmten, Ungebändigten gelassen erträgt. Indem es Ängste geradezu weglache. Weiter heißt es zum therapeutischen Potenzial einer Poetologie des Nichtwissens: diese könne die ,Wunden der Dummheit‘ keineswegs heilen – doch könne sie diese zur Sprache bringen und somit der Furchtabwehr dienen und bessere soziale und emotionale Umgangsweisen mit der (wohl unvermeidlichen) Dialektik der Aufklärung bieten.

Den naheliegenden Einwand, dass diese Studie trotz ihrer vielen, souverän ausgewählten und pointiert diskutierten Textbeispiele wichtige Autoren oder Werke nicht behandelt habe (selbst eingeräumt wird etwa Kleist als ein hier fehlender Spezialist für Missverständnisse, zu denken wäre freilich auch an die reiche Tradition der Gelehrtensatire oder an die im Film zahlreich begegnenden Mad Scientists), pariert Geisenhanslüke prophylaktisch mit dem immunisierenden Hinweis, „dass die Dummheit gründlich und der Witz sprunghaft ist“.

Diese Überblicksschrift über verschiedene Kontinente des Nichtwissens ist sehr nützlich für die allgemeine Geschichte des Wissens wie für die Literatur- und Formgeschichte des Wissens, indem sie gleichsam deren doppelten Boden, die in den Fundamenten liegenden Schächte des Nichtwissens kartiert. Sie wird gewiss Folgestudien anregen.

Schließen wir unsere Betrachtungen mit dem Hinweis auf ein weiteres ästhetisches Jenseits des Wissens, das in dieser auf literarische Epistemik und die Modellierungen epistemischer Defizienzen fokussierten Arbeit höchstens ganz peripher in den Blick kommt (wiewohl es für einige der Kronzeugen wie Nietzsche und Freud fraglos von höchster Bedeutung war). Gibt es nicht ein anthropologisches Jenseits des Wissens und ein funktionales Jenseits der auf Wahrheit bezogenen Ästhetik, das in einer Poetologie des Nichtwissens als weiteres Gebiet auftauchen sollte? Emotionen (und ihre Abgründe) prägen den Menschen so sehr wie Kognitionen – und keineswegs als deren simpler Gegenpol. Des Lesers Mitgefühl mit Angst, Wut, Liebe, Trauer, Freude oder die erlebte Spannung fungieren als emotionale Wirkungsweisen und als Lustmotive des Lesens. Sie weisen darauf hin, dass Literaturlektüre nicht unbedingt und nicht ausschließlich eine epistemische Aktivität sein muss.

Kurz gesagt: man liest nicht nur, um zu wissen, sondern auch: um etwas (und: sich) zu fühlen oder zu erleben. So ließe sich der Bogen schlagen oder das Grenzgebiet markieren, in dem sich der Trend der Literaturgeschichte als Wissensgeschichte mit dem emotional turn der Kulturwissenschaften überschneidet. Wiewohl diese beiden Paradigmen schon eine Weile produktiv verfolgt werde und eine Welle an Publikationen hervorgebracht haben, steht die Aufklärung der Zusammenhänge von (Nicht-)Wissen und Gefühlen, von genuin nicht-epistemischen Ästhetiken und Rezeptionspraktiken, von Mood-Management statt Wissenserwerb als Lektüreziel wohl eher noch am Anfang als an ihrem Ende.

Titelbild

Achim Geisenhanslüke: Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
295 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552054

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