Wie ein gehäuteter Apfel

In ihrer an poetischer Leichtigkeit und kreativen Sprachbildern reichen „Rauchernovelle“ begleitet Adelheid Dahimène eine Virginier rauchende Mitfünfzigerin auf einer leidvollen Reise mit dem Zug

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Weil deren Ausrottung alle Länder einhellig beschlossen haben, [darf] jeder blauäugige Aasgeier mit spitzem Schnabel auf die Raucher loshacken“. Tabak steht nämlich „ganz oben auf der Abschußliste der schädlichen Auswirkungen für Geist und Körper“. Die Raucher sind dementsprechend zu einer „Geheimgesellschaft“ mutiert.

Zumindest sieht das die aus der Ich-Perspektive berichtende Protagonistin so, die eine „sehr starke Raucherin“ ist. Von ihrem Lebensgefährten „jahrelang gedemütigt“ lebt sie „in Trennung“. Sie verlässt aber nicht nur ihn, der („je mehr Haare und Zähne“ ihm ausgefallen sind) „zu einer immer groteskeren Gestalt“ geworden ist, sondern auch ihren Wohnort Salzburg.

Sie tut es per Bahn, obwohl ihr Tagesverlauf vom „Anzünden und Paffen“ beherrscht wird, „in sämtlichen Zügen [aber] seit Monaten“ Rauchverbot herrscht. Das scheint sie nicht abzuschrecken. „Ich reise einfach herum, das ist mein Leben“, bekennt die namenlose „Frau in den Fünfzigern“. Doch eigentlich hofft sie, dass sie sich dadurch von ihrer „langjährigen Sesshaftigkeit in unmöglichen Verhältnissen zu lösen“ vermag. Auf jeden Fall ist sie froh, durch ihr Unterwegssein „alles auf später“ verschieben zu können.

Ihr Wohlgefühl hält sich im „Nichtraucherzug mit versiegelten Aschenbechern“ dennoch in Grenzen, muss sie doch auf das sie so ungemein beruhigende „Saugen an der Zigarre“ verzichten, wird dazu noch „dauernd blöd“ angegafft, weil sie ausschaut, als hätte sie sich „mit dem Brotmesser die Haare geschnitten“, und kann nichts gegen ihre „Berührungsängste“ tun, die ein voll besetzter Zug noch verstärkt. Und doch scheint sie irgendwie „abhängig von der Eisenbahn“ zu sein. Sie hat „in der Nähe eines Verschubbahnhofs“ gewohnt und ist in ihrer Jugend „als Hobo unterwegs“ gewesen. Doch im Grunde bedeutet für sie Zugfahren ohne rauchen: „wie ein gehäuteter Apfel […] ohne Schutzschale am Baum“ zu hängen.

Als Kind schon hat sie „Lianen geraucht“, „später Nil ohne Filter“, dann Pfeife „mit irgendwelchen billigen Tabaken, ehe sie bei jener Zigarrenmarke landete, die „schon der österreichische Kaiser Franz Joseph geraucht“ hat, nämlich der Virginier, deren Besonderheit darin liegt, „nur im österreichisch-bayerisch-schweizerischen Raum heimisch“ und das „unerlässliche Requisit eines Typs“ zu sein, der als „eigensinnig und ausgepicht“ gilt. „Seit zwanzig Jahren“ raucht sie diese Zigarre. Nur im Zug, diesem „Höllenfuhrwerk“, muss sie jetzt darauf verzichten.

Aber auch wenn sie ihre „renitente Haltung gegenüber der Gesetzgebung“ demonstrieren und das Rauchverbot brechen hätte wollen, es wäre nicht gegangen, weil sie plötzlich „mit den Händen an die Sitzrückwand genagelt“ gewesen ist. Man hat „eine verschraubte Kleiderpuppe“ aus ihr gemacht, sie „für die Schädigung [ihrer] Mitmenschen ans Kreuz genagelt“. „Das meiste Blut ist an den Mittelfingern und in den Handtellern, es sind vier Schrauben“. Aber niemand sieht sie. Auch Anatol nicht, der Mann vom Zugservice, mit dem sie sich angefreundet hat und der, weil er sie „sympathisch“ findet, bei ihrer Vision mitspielt und so tut, als würde er sie mit dem Schraubenzieher befreien. Und doch gelangt später ein Foto, das sie „blutbefleckt, die Arme nach oben gestreckt und an die Wand genagelt“ zeigt, an alle „internationalen Presseagenturen“.

Mit ihrer Version einer Kreuzigungsgeschichte spielt Dahimène auf das gattungsspezifische Element der „unerhörten Begebenheit“ an. Gekonnt changiert sie zwischen Realität und Fiktion. Einerseits hält sie fest, dass ihre Heldin „nicht tragbar für die korrekte Linienführung dieser Welt“ ist, andererseits lässt sie dieselbe extra betonen, sie sei „völlig normal“. Und dort, wo diese Normalität wie „ein Eisklumpen […] an einer Überdosis Hitze zu zerfließen“ droht, weist die Autorin ganz beiläufig und locker darauf hin, dass sich manchmal „im menschlichen Gehirn unerklärliche Vorgänge“ abspielen, die man „Visionen nennt“. Und diese Visionen gehen ab und zu „mit den Betroffenen durch wie ein wildgewordenes Pferd“.

Bei der Heldin der Geschichte führt das soweit, dass sie mit Anatols Hilfe ihr „Erlösungsprogramm“ realisiert. Die beiden aktivieren die ehemaligen Raucherwaggons, indem sie alle Plomben von den Aschenbechern entfernen. Auf der Weiterfahrt wird dann natürlich geraucht, der Schaffner verteilt „Strafmandate“, man schlägt ihn nieder, er landet im „Unfallkrankenhaus“ und schwebt „in Lebensgefahr“. „Ihre Verhaftung“ steht an. Sie soll nämlich „Beihilfe zum versuchten Totschlag“ geleistet haben, will natürlich ihre „Haut retten“ und baut deshalb ganz stark auf ihren neuen ungarischen Freund Anatol, der sie „aus dem Wirrwarr der gezogenen Schleifen“ befreien soll.

„Nach zwei Wochen unentwegter Zugfahrt mit kurzen Abstechern ins jeweilige Umland“ sieht sie gar nicht gut, ja eher wie „eine heruntergekommene Existenz“ aus: Sie ist „extrem nachlässig angezogen […], blaß im Gesicht“ und hat „schwarze Ringe unter den Augen“. Und dann schlägt sie auch noch mit dem „Kopf hart auf das Granitpflaster“ auf. Kein Wunder. Schließlich ist ihre „Traditionszigarre […] aufgelassen worden“ und sie somit gezwungen, sich mit „niederbayerische[n] Ersatzzigarre[n]“ zu begnügen.

Aber da ist ja noch Anatol, und auf den ist Verlass. Er handelt für sie bei der Bahn „einen Sondertarif“ aus: Zwischen Budapest und Hamburg (seine Haupteinsatzstrecke) darf sie „zum Tagestarif für Hunde“ fahren. Doch das ist nicht alles. Sogar „ein gemeinsames Leben“ in einem Haus am Plattensee steht im Raum. Und Plattensee deshalb, weil sie eben ziemlich gern schwimmt, womit im letzten von sieben Kapiteln ganz „By the way“ (so der Titel dieses Abschnitts) auch noch einmal die Autorin selbst in den Mittelpunkt rückt, die im Übrigen sogar auf eine Atterseeüberquerung verweisen kann; ein Schwimmen, das an einer der schmäleren Stellen des Sees (vom Ost- zum Westufer) jährlich stattfindet.

Leider kann Adelheid Dahimène nicht mehr daran teilnehmen, ist sie doch im November 2010 an den Folgen eines Lungenkarzinoms gestorben. In diesem Sinne darf ihre „Rauchernovelle“ auch als autobiografisches Vermächtnis gelesen werden. Denn wie man auf der Vorderseite des Buches unschwer erkennen kann, ist die aus Oberösterreich stammende Autorin selbst eine große Virginierliebhaberin gewesen.

Während sie sich in ihrem 1998 im Klagenfurter Wieser Verlag erschienenen Roman „Gar schöne Spiele“ mit der „den Zufall als entscheidenden Faktor für den Lauf der Dinge“ vorsehenden Spieltheorie auseinandersetzt, verwandelt sich in der dreizehn Jahre später erschienenen „Rauchernovelle“ die eigene Biografie in eine bunte Spielwiese. Es geht in diesem fein gesponnenen Fahrtenbuch oft launig und humorvoll zu, dann wieder kippt diese Art Reisegeschichte, in der die Heldin zur „Märtyrerin aller Raucher“ avanciert oder zur „halb erleuchteten Mönchin“, in ernste Dramatik mit überraschenden Wendungen. Die wunderlichsten Satzblüten tauchen auf.

Adelheid Dahimène ist eine große Sprachspielerin. Das lässt sie auch in ihrem letzten „zur Veröffentlichung freigegebene[n]“ Werk auf beeindruckende Weise spüren. Mit ihr hat die österreichische Literatur eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Autorin verloren.

Titelbild

Adelheid Dahimene: Rauchernovelle.
Klever Verlag, Wien 2011.
169 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783902665287

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