Cui bono?

Walter Gödden und Steffen Stadthaus geben Gustav Sacks „Gesammelte Werke“ neu heraus

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist wahrlich bemerkenswert, welches Projekt die Literaturkommission für Westfalen im Bielefelder Aisthesis Verlag betreibt: Werke von zum Teil längst vergessenen, zumindest aber einem größeren Lesepublikum wohl kaum mehr bekannten Autorinnen und Autoren aus Westfalen sollen (noch dazu zu einem erschwinglichen Preis) einer größeren Leserschaft wieder zugänglich gemacht werden. Das Resultat ist die „Reihe Texte“, in der bislang unter anderem die „Lebenserinnerungen“ der Gebrüder Hart, ein „Lesebuch“ zur sogenannten „Dichterin der Kinderseele“ Josefa Metz, ebenso wie die Werke Peter Hilles oder auch Wilhelm Stolzenburgs erschienen sind. Der zwanzigste Band der Reihe schließlich ist den „Gesammelten Werken“ des 1916 im Ersten Weltkrieg gefallenen Schriftstellers Gustav Sack gewidmet.

„So einzigartig und darum unvergeßlich wie dieser Mensch ist auch sein Werk […]“, enthusiasmierte sich Albert Soergel 1925 in seinem „Dichtung und Dichter der Zeit. Im Banne des Expressionismus“ über Gustav Sack und sah in ihm gar den „ursprünglichsten jungen deutschen Dichter“ seiner Generation. Insbesondere Sacks Erstlingsroman „Ein verbummelter Student“, der posthum 1917 erschien, sowie der 1919 erschienene Roman „Ein Namenloser“ wurden von Soergel begeistert gepriesen; ihnen werden andere Werke, die erstmals 1920 in einer von Sacks Witwe Paula besorgten Ausgabe dem Lesepublikum zugänglich gemacht wurden, zur Seite gestellt, wie etwa der Fragment gebliebene Roman „Paralyse“, die Gedichtsammlung „Die drei Reiter“ und das Schauspiel „Der Refraktär“; in ihrer Gesamtheit, so Soergel, hätten diese Werke Sack den „Eindruck des Unvergeßlichen“ verliehen.

Überraschenderweise hat es für den geneigten Leser zunächst fast schon den Anschein, als könnten sich Walter Gödden und Steffen Stadthaus, die beiden Herausgeber der im Aisthesis Verlag publizierten „Gesammelten Werke“, für Gustav Sack nicht ganz so sehr begeistern wie Soergel; für Germanisten sprachlich überraschend undifferenziert bezeichnen sie ihn in ihrem Nachwort mit einem der zweifellos augenblicklich angesagten – aber semantisch befremdlich leeren – Plastikadjektive schlechterdings als einen „so spannenden Autor“. „Spannend“ ist dabei aber wohl keinesfalls im Sinne der Romane eines Edgar Wallace oder Henning Mankell gemeint; vielmehr sei Sacks Werk primär ob des „frühexpressionistische[n] Sound[s]“ so bemerkenswert, der selbst die „trendigsten avantgardistischen Lektoren“ seiner Zeit davor zurückschrecken ließ, seine „poetischen Monstren“ zu publizieren („Wow!“, möchte man da – verbal ähnlich „trendig“ – ausrufen, „Pretty funky, der Mann!“). Dass Sacks Werk, der bislang noch ausstehenden breiten Rezeption zum Trotz, tatsächlich ziemlich funky ist, soll eine kurze Synopse von Aussagen der zwar „kleinen“, aber dafür angeblich „prominenten“ „Zahl der Fürsprecher“ belegen; diesen zufolge ist Sack in eine Reihe mit Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Raabe, Franz Kafka, Robert Musil, Georg Trakl, ja gar Allen Ginsberg zu stellen; während darauf hingewiesen wird, dass Thomas Mann insbesondere das Romanfragment „Paralyse“ ausgiebig lobte, das Sacks Witwe ihm 1949 in der (sich nicht erfüllenden Hoffnung) zugesandt hatte, dass er bei einer Publikation des Gesamtwerks Sacks behilflich sein könne, bleiben allerdings viele der anderen prominenten „Fürsprecher“ (philologisch nicht so ganz überzeugend) im einzelnen namentlich unbelegt.

Zugegeben: Das sind sicherlich sprachlich-formale Quisquilien, über die zu echauffieren sich kaum lohnt, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Herausgeber mit ihrer Ausgabe endlich eine „Neubelichtung“ Sacks anstreben und zu diesem Behufe nach eigenem Bekunden nichts weniger als „die erste vollständige und textkritisch überarbeitete Werkausgabe“ vorlegen. Dass dies eine wahre Sisyphos-Aufgabe gewesen sein muss, wird gleich zu Beginn des Nachworts deutlich: „Die vorliegende Edition bietet nach Jahrzehnten erstmals wieder eine vollständige Ausgabe der Werke Gustav Sacks. Die editorische Situation ist im Falle dieses Autors ein einziges Dilemma.“ Immerhin: Auf zwei Ausgaben hatte es Gustav Sacks Werk zuvor schon gebracht. Die erste wurde von seiner Witwe Paula Sack besorgt und erschien 1920 in zwei Bänden im S. Fischer Verlag; die zweite, „Gustav Sack. Prosa – Briefe – Verse“, wurde 1962 bei Langen/Müller publiziert und ebenfalls von Sacks Witwe herausgegeben, von ihr selbst retrospektiv jedoch schon bald als hochgradig defizitär bezeichnet, da man die Texte ihres verstorbenen Mannes „durch den Dudenwolf gedreht“ und die für Sack so charakteristische, nicht-regelkonforme Interpunktion zu Unrecht geglättet habe. Auch fehlten darüber hinaus in dieser Ausgabe durchaus zentrale Werke wie etwa die Prosastücke „In Ketten durch Rumänien“, das „Paralyse“-Fragment sowie das Drama „Der Refraktär“; die beiden letzteren wiederum hatte Paula Sack 1971 als Neuausgabe bei Fink herausgegeben. (All diese Informationen zur Publikationsgeschichte können sich geneigte Leser aus dem Nachwort und den entsprechenden Fußnoten auch fast problemlos selbst zusammenklauben. Auf das Anfügen einer diesbezüglichen Bibliografie wurde leider verzichtet). Hier scheint nun also exakt die Lücke zu klaffen, die die Herausgeber der aktuelle Ausgabe zu schließen versuchen: In Bezug auf die Originalorthografie und -interpunktion Sacks gehen sie auf die Fischer-Ausgabe zurück und ergänzen deren Textkorpus um die noch fehlenden Werke (ein wahres „Dilemma“ sieht dann allerdings vielleicht doch anders aus). Fast so ist die Vorgehensweise der beiden Herausgeber auch, aber eben nur fast: Hatte Paula Sack 1920 die frühen Arbeiten ihres Mannes nicht mit aufgenommen, mit dem Hinweis, dass sie „literarische Beachtung an sich nicht beanspruchen können“, so ist dies aus der Situation heraus, dass sie das Gros der Werke ihres Mannes der größeren Öffentlichkeit überhaupt erst einmal bekannt machen musste und von daher auch eher die ‚reiferen‘ Texte auswählte, völlig nachvollziehbar und verständlich. Die Begründung, die Gödden und Stadthaus dafür geben, dass sie ebenfalls darauf verzichtet haben, das Frühwerk Sacks abzudrucken, überzeugt dagegen, nicht nur aufgrund der wohl doch nicht ganz korrekten zeitlichen Einordnung, schon weniger: „Unberücksichtigt blieben bei der vorliegenden Ausgabe die zwischen 1901 und 1920 [sic!] entstandenen Jugendwerke Sacks […] Diese sind noch ganz den klassischen Vorbildern Byron und Shelley verpflichtet und tragen stark epigonale Züge.“ Somit werden aus der „erste[n] vollständige[n] […] Ausgabe“ just die Werke ausgeschlossen, die auch – zusammengenommen – in den Vorgängerausgaben fehlen. Dabei sehen sich die Herausgeber aber durchaus im Einklang mit Gustav Sacks eigenen Wünschen: „Dem Autorwillen folgend, fehlten sie auch in der 1920er Ausgabe.“ (An dieser Stelle ließe sich jedoch trefflich darüber streiten, inwiefern der Wille eines Autors ein legitimes editorisches Kriterium ist – was wäre wohl passiert, wenn sich Max Brod dem „Autorwillen“ gefügt hätte?). Somit werden die Leser auf eine noch ausstehende historisch-kritische Gesamtausgabe vertröstet: „Für eine solche Ausgabe fehlen jedoch momentan die finanziellen und personellen Rahmenbedingungen.“ Je nun: Wer möchte aber auch schon gerne epigonal-ennuyante Juvenilia lesen, denen selbst die Witwe des Autors jeglichen literarischen Wert absprach? An dieser Stelle überraschen die Herausgeber den sich solcherart bereits über den Mangel hinweggetröstet habenden Leser allerdings ganz unerwartet – denn selbstverständlich waren beide im Marbacher Literaturarchiv, um den dort aufbewahrten Sack’schen Nachlass einzusehen, und ihre Lektüre des Jugendwerks führt zu der Feststellung, dass seine frühen Dramen zwar „pubertär-romantische[r] Kitsch“ seien, aber doch auch „Sacks enorme Einbildungskraft, seinen Einfallsreichtum und literarischen Eifer“ verrieten; mehr noch, sein erstes Trauerspiel „Termer“ sei bevölkert von einem geradezu „imposanten Figurenreigen“; damit wird dem Leser zunächst (sehr erfolgreich) der literarische Mund wässrig gemacht, nur um ihn anschließend editorisch auf dem Trockenen sitzen zu lassen. Schade eigentlich. Schade auch, dass man darauf verzichtete, das Drama „Olof“ aufzunehmen, das „einzige Druckwerk zu Sacks Lebzeiten“, das seiner Mutter immerhin so brillant erschien, dass sie es als Privatdruck hatte veröffentlichen lassen. Hier ließe sich nun wiederum fragen, was genau mit der Bezeichnung „Druckwerk“ gemeint sein kann; denn wurden auch keine seiner größeren Arbeiten zu Sacks Lebzeiten publiziert, so erschienen doch einige wenige seiner kleineren Texte noch vor oder doch wenigstens kurz nach seinem Tod; das Gedicht „Der Schuß“ beispielsweise, das 1914 in der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung“ publiziert wurde, oder auch das Prosastück „Der Zynismus unserer Jüngsten“, das schon 1913 ebendort erschien. (Diese Informationen zur Publikationsgeschichte wiederum müssen sich geneigte Leser leider anderweitig selbst zusammenklauben. Hier wurde auf entsprechende bibliografische Nachweise ebenfalls verzichtet. Dies mutet umso erstaunlicher an, als deren Zahl sehr übersichtlich gewesen wäre – im Vorwort zur Ausgabe von 1962 verweist Dieter Hoffmann darauf, dass es sich dabei nur um insgesamt „elf kleinere Arbeiten in Zeitungen und Zeitschriften“ gehandelt habe.) Ebenfalls – diesmal allerdings stillschweigend – verzichtet wurde auch auf den Abdruck der „Briefe und Tagebuchblätter“, die in der Langen/Müller-Ausgabe immerhin über ein Drittel des fast siebenhundertseitigen Gesamtumfangs ausmachen.

Worauf Walter Gödden allerdings – völlig zu Recht – nicht verzichtet hat, ist davor zu warnen, Sacks Werk einer rein biografistischen Exegese zu unterziehen, wie dies etwa Soergel und – weitaus weniger schwülstig-pathetisch – auch Hoffmann praktiziert hat: „Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich das Interesse vorrangig an der Person Sacks entzündete, die in Beziehung zum Werk gesehen wurde. Diese Gleichsetzung von Leben und Werk verstellt jedoch die Sicht auf den Autor.“ Was folgt, ist eine von Steffen Stadthaus verfasste rund vierzigseitige „Biographische Skizze“. In dieser wird unter Zwischenüberschriften wie „Poetische Träumereien in der Provinz. Gustav Sacks Kindheit und Jugend in Schermbeck“ oder auch „Ein Chronist aus den Todeszonen des Krieges. Gustav Sack als Soldat im Ersten Weltkrieg (1914-1916)“ Sacks literarische Produktion explizit von der Vita des Autors her perspektiviert, was, so Stadthaus, wiederum aber auch klar Sacks „biografistische[m] Konzept“ entspräche, habe sich der Autor doch gerade als „Chronist[…] seiner eigenen Erlebnisse“ gesehen.

Cui bono? möchte man sich nun abschließend fragen – wer ist eigentlich das anvisierte Lesepublikum für diese Neuausgabe der Werke Gustav Sacks? Literarisch Interessierte, würde man vermuten, all jene, die sich nicht auf die Suche nach antiquarischen Exemplaren der Ausgaben von 1920 und 1962 machen möchten (obgleich diese noch in reichlicher Zahl verfügbar sind) oder Bibliothekskataloge nach den Erstdrucken des „Verbummelten Studenten“ oder des „Namenlosen“ durchsuchen wollen. Doch weit gefehlt – in der Benennung des telos ihrer Arbeit vermögen die Herausgeber erneut zu überraschen: Es sei ihr Ziel, dass das „Werk und Leben Gustav Sacks wieder an die Forschung herangeführt werden [soll]. Der Autor ist seit langem aus dem Blickfeld der Literaturwelt und Forschung verschwunden. Schenkt man dem Eintrag im „Westfälischen Autorenlexikon“ Glauben, so ist in den letzten Jahren nur noch vereinzelt über ihn gearbeitet worden.“ Fast möchte man dies als literarischen coup de grâce bezeichnen, durch den ein Autor, den es doch eigentlich neu (oder fast schon: überhaupt erst) zu entdecken gilt, explizit in die Sphären des wissenschaftlichen Elfenbeinturms verwiesen wird; hier wäre ein Blick auf den von Virginia Woolf als „gewöhnlichen (common) Leser“ bezeichneten Literaturinteressierten sicherlich wünschenswert gewesen. Was hingegen die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sacks Werk betrifft, so bleibt es fraglich, worin genau das im Hinblick auf die angestrebte „Neubelichtung“ notwendige „Neue“ an dieser Ausgabe liegt, das, was nicht auch schon die (überschaubare) Gesamtheit der Vorgängerausgaben zu bieten hat. In diesem Punkt bleiben die Herausgeber eine konkrete Antwort aber weitgehend schuldig, so dass fast zu vermuten steht, dass all jene, die sich für Gustav Sack und sein Werk interessieren – sei es wissenschaftlich oder auch nur privat –, wohl auch weiterhin getrost zu den früheren Ausgaben werden greifen können.

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Gustav Sack: Gesammelte Werke.
Herausgegeben von Walter Gödden und Steffen Stadthaus.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2011.
659 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783895288562

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