Das Scheitern einer Generation

Gunnar Hinck untersucht die Geschichte der deutschen Linken der 1970er-Jahre

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem die bundesrepublikanische Linke der 1970er-Jahre in den Orkus der Geschichte verabschiedet worden war und sich die Überlebenden in postmodernen Formen der Politik einrichteten oder die Existenz der Privatiers vorzogen, erlebt sie in jüngerer Zeit neue Aufmerksamkeit. Vor allem jüngere Autoren, die aufgrund ihrer Biografie als Nachgeborene nicht in den „Schuldzusammenhang“ der „bleiernen Zeit“ verstrickt sind, entdecken die als „ideologisch“ verrufenen Jahre von Neuem. Jan Ole Arps untersuchte in seinem Buch „Frühschicht“ (2011) den Weg von „proletarisierten“ Aktivisten der 1968er „Bewegung“ in die Betriebsarbeit, während Michael März in seiner sehr akademisch geratenen Studie „Linker Protest nach dem Deutschen Herbst“ (2012) die Protestformen gegen das sozialdemokratisch geprägte „Modell Deutschland“ in den Jahren zwischen 1977 und 1979 nachzeichnete. Während sich diese Studien auf einer mikrohistorischen Ebene bewegen und letztlich kaum einen Blick für die Makro-Dimension der Geschichte als Prozess des umgreifenden Ganzen entwickeln, ist die Perspektive in Gunnar Hincks Buch „Wir waren wie Maschinen“ weiträumiger, ohne dabei die Details aus den Augen zu verlieren.

Anhand exemplarischer Biografien linker Aktivisten erzählt der Politikwissenschaftler Hinck die verschränkten Episoden einer „bundesdeutschen Linken“, die sich nach dem Aufbruch von 1968 in zahllose maoistische, realsozialistische und spontaneistische, „undogmatische“ Fraktionen zersplitterte. Dabei ist Hinck ein detailreiches, gut recherchiertes, spannendes Buch gelungen, das nicht im Vergangenen verharrt, sondern auch den Blick in die Gegenwart richtet. Obgleich Hinck, der 1973 geboren wurde und seit 2009 SPD-Mitglied ist, keine Abrechnung mit der „totalitären Linken“ im Stile ehemaliger Mitläufer vorlegt, ist das Buch keineswegs eine desengagierte, akademische Fleißarbeit, um sich Meriten im Betrieb zu verdienen, sondern versteht sich als politischer Beitrag zur „Aufarbeitung“ der jüngeren Vergangenheit. „Die gebrannten Kinder der 70er Jahre haben zur Diskreditierung des Denkens in Alternativen in der Bundesrepublik entscheidend beigetragen“, lautet seine harsche Kritik. „Diese Diskreditierung hat bis heute gesellschaftliche Auswirkungen, wäre doch ein Denken in Alternativen in Zeiten wie diesen [sic!] nötiger denn je.“

Um den „Merkwürdigkeiten der 70er Jahre“ auf den Grund zu gehen und die seltsame Anziehungskraft der kommunistischen Weltrevolution für eine nicht unbeträchtliche „Anzahl junger und jüngerer Leute“ aufzuschlüsseln, beschränkt sich Hinck nicht auf die unmittelbare Vorgeschichte der „68er“ (deren Mythologisierung als Kraft der Modernisierung und politischen wie kulturellen Befreiung er infrage stellt), sondern nimmt die Realitäten der Nachkriegszeit wie „Unbehaustheit“ oder die Abwesenheit der Väter mit auf die Rechnung. Wird die „68er Revolte“ gemeinhin als antiautoritäre Rebellion verklärt, unterstreicht Hinck gerade die Abwesenheit väterlicher Autoritäten und die besondere Rolle der verwitweten Mütter, welche die Abenteuer ihrer Sprösslinge im Land der auferstandenen Bolschewiki unter dem Banner des proletarischen Aufruhrs gegen Kritik verteidigten und den Söhnen nach dem Vorbild der Mutter Kempowski mit dem Ausruf „Das sind gute Jungs“ zur Seite sprangen, obgleich sie mit dem linken Projekt sonst keinerlei Berührungspunkte besaßen. In den Augen Hincks ist für „die 68er und die nachfolgenden Linksradikalen“ gerade die „Abwesenheit von versteinerten, ,repressiven‘ Familienverhältnissen“ typisch.

Während in der gängigen 68er-Historiografie das Moment des Politischen und Intellektuellen dominiert, bezieht Hinck auch kulturelle Phänomene wie „Halbstarke“ und „Rocker“ in die Geschichte mit ein, die er in ihrer diffusen Opposition zur Mainstream-Gesellschaft der Adenauerrepublik als Vorläufer der politischen Dissidenten der späten 1960er-Jahre betrachtet. „Halbstarke wie 68er fühlten sich unwohl in der Gesellschaft, in der sie aufwuchsen“, diagnostiziert Hinck. „Halbstarke sind so gesehen als frühe 68er zu deuten und 68er als verspätete Halbstarke.“ In dieser nachholenden Einbeziehung dissentierender, apolitischer Gruppen in den Kontext von „68“ wie in der fokussierten Betrachtung auf individuelle Lebenswege, die in die unterschiedlichen linken Milieus der 1970er-Jahre führten, liegt eindeutig die Stärke des Buches. Zugleich aber engt diese Fokussierung auf eine personalisierte Geschichte den Blickwinkel ein. Verantwortlich für die autoritäre Wende nach 1969 sind in den Augen Hincks nicht gesellschaftliche oder organisatorische Faktoren, sondern einzelne Personen, die das Projekt „68“ in den Abgrund rissen. Im Hincks Geschichte nehmen K-Gruppen-Gründer wie Christian Semler oder Joscha Schmierer, Sponti-Wortführer wie Joschka Fischer oder Thomas Schmid oder Polit-Kultur-Unternehmer wie der Frankfurter Verleger K. D. Wolff die Rollen der bêtes noires ein, während die Verantwortung der jeweiligen Mitläufer (die im Buch mit Nachsicht, Wohlwollen und Verständnis bedacht werden) kaum thematisiert werden. Aus der Perspektive des Nachgeborenen urteilt Hinck (zuweilen in einer forschen, anklagenden Attitüde) vom Standpunkt der sozialdemokratischen „Idee einer ständigen Verbesserung, die Utopismus nicht ausschließt“ und verdammt die Anwendung von Gewalt per se, ohne die Ambiguität von Gewalt in Rechnung zu stellen und das Phänomen der „KonterViolenz als Not-Wehr“ (wie es Jean Améry 1971 formulierte) zu begreifen. So echauffiert er sich über die Gewaltexzesse der maoistischen Gruppen und deren Affinität zu totalitären Regimen, ohne dieses „Rätsel“ von Existenzen in ideologisch-kulturellen Parallelwelten aufschlüsseln zu können, und steht damit unbewusst in der Tradition jener postmodernen, vor der Gewalt erschaudernden Linken, die Lothar Baier in den frühen 1980er-Jahren als die „neue Unschuld“ in der politischen Landschaft karikierte.

Nahezu ausgeklammert ist der Einfluss der Massenmedien auf Akteure der „68er“-Bewegung. In seiner klassischen Studie „The Whole World is Watching“ (1980) hatte Todd Gitlin, der ehemalige Vorsitzende des amerikanischen SDS, auf die Wechselwirkung von medialer und politischer Praxis hingewiesen. Um Aufmerksamkeit in den Massenmedien zu bekommen, musste die außerparlamentarische Opposition immer spektakulärere Aktionen organisieren, und dies beeinflusste auch die Selbstwahrnehmung, was letztlich zu einem Realitätsverlust führte. Über das Medium „Gewalt“ sicherten sich auch K-Gruppen und Sponti-Organisationen wie der „Revolutionäre Kampf“ in Frankfurt Aufmerksamkeit in den verachteten bürgerlichen Medien. Zum anderen reproduzierten diese Gruppen – ungeachtet ihrer radikalen Opposition zur bestehenden Gesellschaft – die Formen der Racket-Gesellschaft, die Soziologen wie Robert S. Lynd oder Max Horkheimer bereits in den 1940er-Jahren beschrieben hatten, in extremen Formen. Das Racket ist (wie Theodor W. Adorno in „Minima Moralia“ schrieb) eine „verinnerlichte Räuberbande mit Führern, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueeid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehör.“ In Hincks Geschichte erscheinen einige Lebenswege absonderlich, etwa jener des Aktivisten der Bewegung 2. Juni, der heute als Handwerker das Programm der FDP unterstützt, oder die Karriere eines ehemaligen DKP-Redakteurs, der momentan das Hohelied auf den kapitalistischen Marktradikalismus intoniert. Das Handwerk der Racketeers lässt sich allerorts gewinnbringend einsetzen. Das Manko des Buches Hincks ist die Abwesenheit einer jeglichen kritischen Gesellschaftstheorie. Sie führt einzelne Charaktere als „Einzeltäter“ der Geschichte vor, ohne den sozialen Ursachen des Scheiterns auf den Grund zu gehen und somit ein „Denken in Alternativen“ zu ermöglichen. Da die Ursachen des Vergangenen fortbestehen, ist – mit Adorno gesprochen – „sein Bann bis heute nicht gebrochen“.

Titelbild

Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre.
Rotbuch Verlag, Berlin 2012.
464 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783867891509

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