Die Rhythmen der Stadt

Mit „Die Stille in Prag“ zeigt sich Jaroslav Rudiš als Chronist der Gegenwart

Von Nora SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste Roman über Prag des bekannten tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudiš ist ein melancholisches Buch. Man mag es als eine Auseinandersetzung mit der Rückkehr verstehen, ist es doch unmittelbar erschienen, nachdem auch Rudiš (wieder) ein Einwohner Prags geworden war. Rudiš ist kein gebürtiger Prager und so hat er diesen Blick für die Poetik einer Stadt, wie ihn nur Neuankömmlinge haben: Fasziniert von der Vielfalt, mit romantischem Blick für die Details und ein Gefühl für eine verheißungsvolle Zukunft.

In seinem Erstlingsroman „Der Himmel unter Berlin“ hat er diesen Blick schon einmal für ein Buch genutzt. Damals wie jetzt ist die Romantik von Rudiš’ jedoch keine sentimentale oder pittoreske, wie man sie aus Bänden mit alten Ansichten kennt. Im Gegenteil: Rudiš verklärt das „Jüngstvergangene“ (Walter Benjamin). Und deshalb sind die Erinnerungen immer andere, ganz so, wie die Städte, aus denen sie sich speisen, ganz eigene Geschichten haben. Den Roman über seine Heimatstadt Liberec, „Grandhotel“, beherrscht eine viel tiefergehende Erinnerung als die Großstadtromane.

Der Pragroman „Potichu“ [Die Stille] führt nicht in tiefliegende Erinnerungsschichten der Stadt, die Romantik basiert aber auch nicht auf den abgegriffenen Touristikklischees der verwinkelten Gässchen oder der mystischen Atmosphäre: Verklärt ist die Aufbruchstimmung der 1990er-Jahre und die Umbruchstimmung der Jahrtausendwende – die romantische Schwermut entsteht nur im wehmütigen Rückblick.

Damals fuhr Petr, der wichtigste Protagonist in diesem Buch aus mehreren parallelen Handlungen, mit seiner großen Liebe einfach weg: Immer weiter bis zum Meer, dem Sehnsuchtstopos der Tschechen schlechthin, genauer gesagt zur Nordsee, die nach den politischen Umbrüchen endlich erreichbar war. Geblieben ist Petr von dieser Reise ein Hund mit dem sehnsuchtsvollen Namen Malmö. Andere Handlungsstränge sind die von Vladimír, der als Percussionist auf Tournee war und keine Zeit für seine Familie hatte; oder Hana, der alle Möglichkeiten offenstanden; oder von dem Amerikaner Wayne, der in Prag eine goldene Karriere vor sich sah. Sie alle hatten eine gute Zeit und heute, an diesem Tag in Prag, an dem der Roman spielt, hängen sie ihrer nur entfernt mit Prag verbundenen Vergangenheit nach, denn es ist ihnen allen gerade etwas passiert. Die ganz persönliche jüngste Vergangenheit der Protagonisten ist der Auslöser für ihre Melancholie: Hana hatte eine tolle Nacht mit einem Mann, von dem sie nicht weiß, ob sie ihn wiedersehen kann oder möchte, denn da ist ja Wayne, ihr Freund. Wayne hat einen Auftrag verbockt und außerdem glaubt er, seinen Bruder als Verwundeten in den Nachrichten über den Irakkrieg gesehen zu haben und denkt an zu Hause. Petr hat Vanda kennengelernt und denkt über seine Gefühle nach: ob er sich doch noch einmal verlieben wird?

Der Kontrast zwischen dem Heute und Damals der Protagonisten macht umso deutlicher, wie  sehr sich Prag verändert hat. Es ist touristisch geworden, gewöhnlich und laut. Deshalb ist „Die Stille in Prag“ getragen von einer besonderen Sehnsucht. Es ist eine Sehnsucht nach einem schon mystisch verklärten ‚Osteuropa‘ mit Nachtklubs in unterirdischen Gemüselagern. Prag als Sehnsuchtsstadt junger Westler beschreibt beispielsweise Arthur Phillips in „Prag“ (deutsch 2003). Doch diese Epoche ist längst zu Ende gegangen, Wayne ist ebenso in Prag hängengeblieben, wie seine Hana an ihm. „Die Stille in Prag“ markiert das Ende dieser Epoche und setzt auch einen Schlusspunkt hinter ein literarisches Thema – oder eröffnet sie es erst?

Spürbar wird die Sehnsucht einer Zuspätgekommenen: Die junge Sängerin Vanda, die schlicht zu spät geboren wurde, aber mit enormer Verve den Beat dieser Jahre auferstehen lässt. „Laut soll die Musik sein. Richtig laut. Das ist das Wichtigste. Damit alles andere untergeht,“ sagt sie am Anfang des Buches. Ihr Herzschlag gibt den Rhythmus vor. Dagegen wird Vladimírs Herzschlag immer leiser. Er sucht die Stille und weiß „Heute hört alles auf.“ Sein Kampf gilt dem Lärm. Er will die Stadt davon befreien, aber auch den Leuten will er ihre Stille zurückgeben und schneidet deshalb heimlich Kabelstücke aus fremden iPods. Vanda und Vladimír sind zusammengehörende Figuren, die eine jung, der andere alt, ihre Herztöne erzeugen das Pulsieren zwischen Ton und Stille. Die Kombination der Klänge erzeugt auch das Pulsieren der Stadt und lässt sie (das weibliche Prag) lebendig werden. Vandas Streben nach Lautstärke und Vladimírs Versuche, die Stille zurückzubringen sind die gegenläufigen Erzählstränge, die auf ein konfrontatives, explosives Ende zulaufen.

Dem Buch ist eine beeindruckende Ambivalenz zu eigen: Es scheint, als lese man verschiedene Episoden, die manchmal auch miteinander in Berührung kommen. Am Abend steuern alle einen unterirdischen Nachtklub an, das ‚Akropolis‘ in Žižkov, die einzelnen Episoden werden hier zusammengeführt. Doch möglicherweise ist es ganz anders: Das Ende ist nicht konstruiert – das Ende ist der Zufall, von dem aus rückläufig alles in Zusammenhang tritt. Ein Zufall, aus dem etwas Neues entsteht. Das Ende ist ein Moment der Stille, in dem der Herzschlag von Vanda und Vladimír aus dem Rhythmus kommt – und dann das Pulsieren der Stadt weitergeht. Petr trifft in diesem Moment auf Hana, wie er an der Endhaltestelle am Anfang des Romans Vanda getroffen hatte. Die Stille ist der Moment der Umkehr. Wenn Stille über Prag liegt, dann entspinnen sich Rückblicke und Erinnerungen – oder romantische Geschichten. Wenn Stille über Prag liegt, ist ein besonderer Moment erreicht. Der macht den Tag, den Alltag der Protagonisten, erzählenswert. Gleichzeitig birgt dieser besondere Moment ein Versprechen für die Zukunft. Es ist ein Einschnitt. Die Stille ist für die Stadt Prag der Moment, an dem das Kabel ihres iPods durchgeschnitten wird. Kurz darauf geht es weiter: Prag hört seine Umgebung, ist nicht mehr auf sich selbst konzentriert.

Titelbild

Jaroslav Rudis: Die Stille in Prag. Roman.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Eva Profousová.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
240 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873800

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