Wie Jean Paul einmal das Internet erfand

Michael Zaremba legt mit „Jean Paul. Dichter und Philosoph“ eine durchwachsene Biografie vor

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „moderne“ Biografie soll es sein, die rechtzeitig zum bevorstehenden 250. Geburtstag des eigentümlichen Dichters, des Gegenklassikers Jean Paul auf den Markt kommt. Da die bisher erschienenen Bücher über das Leben des im März 1763 in der fränkischen Provinz geborenen Johann Paul Friedrich Richter tatsächlich eher betagt sind – und/oder sich in einem Grenzbereich zwischen Biografie und romanhafter Ausgestaltung bewegen – ist die Idee einer neuen Lebensbeschreibung wohl naheliegend. Die „nicht nur literaturwissenschaftlich orientierte Jean-Paul-Biografie“ will gleichwohl, sofern man dies der etwas sprunghaften Einleitung richtig entnimmt, an die über die Fachwelt hinausgehende Breitenwirksamkeit von solchen Büchern wie etwa Günter de Bruyns „Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter“ (1975) anknüpfen.

Die Ankündigung, bisher vermeintlich vernachlässigte Aspekte wie die Bedeutung der Musik oder die philosophisch-politische Dimension des Jean-Paul-Kosmos stärker zu berücksichtigen, ist mit Vorsicht zu genießen: Wirklich Neues erfährt man hier nicht. Auch die Schwerpunktsetzung auf die Korrespondenzen Jean Pauls, die zum Teil erst in den letzten Jahren im Rahmen der historisch-kritischen Werkausgabe erschlossen wurden, hinterlässt bei der Lektüre kaum Spuren. Offenbar dient sie der Abgrenzung gegenüber anderen Jean-Paul-Biografien, von denen mehrere anlässlich des Jubiläums erscheinen werden.

Zaremba folgt stringent dem chronologischen Ablauf des Lebens von Johann Paul Friedrich Richter. Darin ist die Biografie solide und hält sogar das Versprechen des Klappentextes auf kurzweilige Lektüre. Auch wird der Charakter Jean Pauls streckenweise sehr differenziert, anschaulich und empathisch beschrieben, manchmal blitzen Einschätzungen auf, die mit einem unprätentiösen und gleichsam entschlackten Blick auf das kapriziöse Phänomen Jean Paul überraschen. Die Schattenseite davon ist jedoch, dass der Stil streckenweise entgleist; einige Formulierungen kommen geradezu nassforsch daher, manche Wortspiele und Metaphern stoßen hart an die Grenze zu Kalauer und Schenkelklopfer. Zudem wirken die ständigen Synonymbildungen etwas gespreizt: Warum muss „Musik“ durch „Tonkunst“, „Dichtung“ durch „Wortkunst“ oder „Philosophie“ durch „Weisheitslehre“ ersetzt werden? Die Verwendung des Adjektivs „semitisch“ für „jüdisch“ ist verstörend unsensibel.

Das Lektorat scheint ein wenig flüchtig oder unter Zeitdruck durchgeführt worden zu sein (so wird zum Beispiel gleich im Vorwort der Titel eines Schlüsseltextes von Jean Paul falsch wiedergegeben: „Die Wunderbare Gesellschaft in einer Neujahrsnacht“ – an anderen Stellen im Buch ist manchmal auch korrekt die Rede von der „wunderbaren Gesellschaft in der Neujahrsnacht“ – was nicht unerheblich ist, da es in der allegorischen Erzählung nicht um irgendeine Neujahrsnacht geht, sondern um die in der das 19. Jahrhundert beginnt).

Solcher Unsauberkeiten ließen sich weitere aufzählen, auch über offensichtliche Rechtschreib- und Grammatikfehler stolpert man ein wenig zu häufig. Den Eindruck einer gewissen Flüchtigkeit erweckt auch das letzte Kapitel des Buches, „Reflexionen über Jean Paul“, das sich nicht mehr an der Chronologie des Lebensweges orientiert. Dieser Nachklang hebt vielversprechend an mit Erläuterungen über die Verwertung des Jean Paul’schen Werkes nach dessen Tod, verliert sich dann aber in redundanten Aneinanderreihungen von Anekdoten und Besonderheiten aus dem Leben des Dichters. In einem Absatz geht es um dessen nachlässige Kleidung, im nächsten um sein problematisches Verhältnis zu Rezensenten, im folgenden um seine Wetterfühligkeit – ein Absatz endet mit dem Hinweis darauf, Jean Paul sei im August 1810 aufgrund von Trunkenheit in den Main geplumpst. Der folgende Absatz setzt ein: „Seine frühen literarischen Vorbilder waren…“ (welche von denen ebenfalls baden gingen wird indes nicht erwähnt).

Man könnte geradezu auf den Gedanken kommen, der Verfasser dieser Biografie wisse mit dem Werk Jean Pauls eigentlich gar nicht so recht etwas anzufangen. Manchmal wirkt er geradezu pikiert; etwa wenn er Stellen aus diesem bildgewaltigen Werk zitiert, die er für sprachlich überspannt hält. Dass zum Beispiel Jean Paul eine Milchstraße sich zu einem Gebirge herüberbiegen, die „tiefe Goldgrube einer Abendwolke“ tropfen lässt oder gar ein Palmbaum sich erdreistet, „seinen Palmwein mit Stacheln“ zu bedornen, ist für Zaremba nicht etwa Ausdruck der Großartigkeit einer Amalgamierung von Barock, Romantik und Surrealismus, sondern – er ruft nach dem „gestandene[n] Deutschlehrer“, der hier „auf diese Palme sicher gehen“ würde.

Die Beschreibungen und Einordnungen der Werke Jean Pauls geraten oft lieblos, knapp und erscheinen wie eine notwendige Pflichtübung. Allzu oft wird die Charakterisierungen eines Werkes abgebrochen mit der abgeschmackt und lustlos wirkenden Formulierung „der geneigte Leser“ möge sich doch ein eigenes Bild machen. Das mag gerade noch angehen, gemessen an dem Anspruch, sich auf das Leben des Johann Paul Friedrich Richter zu konzentrieren. Widersprochen werden muss allerdings dann, wenn diese knappen Streiflichter ein verzerrtes Bild der Werke vermitteln. Dass Jean Paul in seinem „Freiheitsbüchlein“ eine „Volksgemeinschaft“ einfordert, ist blanker Unsinn. – Das geht sogar aus den übrigen Erläuterungen des Verfassers über das Büchlein hervor, das vornehmlich einen geschickten und originellen Angriff auf die Zensur darstellt. Ähnlich schräg liegt die Behauptung, in der „Erziehlehre“ „Levana“ finde sich nationalsozialistisches Gedankengut – wobei dann im gleichen Atemzug der Humanismus und die Fortschrittlichkeit dieser pädagogischen Pionierarbeit gelobt werden.

Nachdem der erste Schrecken sich gelegt hat, merkt man allerdings, dass hier weniger ideologische Übereinstimmungen behauptet werden, als vielmehr schlichtweg – jedoch nicht weniger bestürzend – das Vokabular des Nationalsozialismus als unverbindlicher Metaphernsteinbruch genutzt wird. Anders ist nicht zu erklären, wie der Verfasser auf die Idee kommen kann, allen Ernstes die Romanfigur Dr. Katzenberger als einen Vorgänger von Josef Mengele zu bezeichnen und am Ende noch zu behaupten, Katzenberger sei „zur Leitung eines beliebigen Konzentrationslagers“ befähigt. In Wahrheit tut der Protagonist aus „Dr. Katzenbergers Badereise“ niemandem etwas zu Leide – außer seinem Rezensenten, den er ,beträchtlich ausprügelt’ – sondern zeigt sich im Gegenteil als kauziger und zutiefst humaner Nonkonformist, der das Deckmäntelchen der Normalität nicht benötigt, weil er eben gerade nicht von dämonischer Bösartigkeit getrieben ist.

Bei derartigen Ausrutschern handelt es sich um den Versuch, etwas zu beschreiben, was Jean Paul tatsächlich wesentlich ist: die Reflexion auf eine „Dialektik der Aufklärung“, auf die der potentiell emanzipatorischen Rationalität innewohnenden Gegenkräfte, die in die Barbarei führen können. Für eine derart komplexe und folgenschwere Deutung der Werke Jean Pauls überspringt Zaremba allerdings ein paar entscheidende Schritte und stellt die Zusammenhänge derart schematisch verkürzt dar, dass nicht viel mehr bleibt als eine diffuse Zivilisationskritik, mit der man in dieser Form dem Werk Jean Pauls ganz sicher nicht gerecht wird.

Die Aussage etwa, Jean Paul soll das Gelingen der Aufklärung „durch ein Zu viel an Wissen“ bedroht gesehen haben, ist allein angesichts der extrem ausschweifenden Schreibweise des Dichters fragwürdig. Ähnliche Aussagen Jean Pauls einfach bruch- und reflexionslos auf die Gegenwart zu übertragen, ist ein problematisches Unterfangen. Jean Paul soll gar ein „Prophet […] des Internetzeitalters“ gewesen sein. Darunter scheint es nicht zu gehen, wenn man begründen will, warum das Werk eines Dichters heute noch gelesen werden sollte.

Ein Urteil darüber, ob die vorliegende Biografie den selbstgesetzten Ansprüchen Genüge tut und ob diese überhaupt angemessen sind, soll hier unterbleiben; müsste man doch dafür allzu tief in die von Jean Paul vorgenommene Unterscheidung von Kauf- und Lesepublikum einsteigen. Anders gesagt: Ob der Anspruch des Buches, ein breiteres Publikum auch jenseits der Fachwelt zu erreichen, gerechtfertigt ist, hängt nicht zuletzt wohl von den Ansprüchen dieses Publikums ab. Über die Tragweite der genannten Mängel und Schwächen und ihr Verhältnis zur Kurzweile mag der ,geneigte Leser’ selbst urteilen.

Titelbild

Michael Zaremba: Jean Paul. Dichter und Philosoph. Eine Biografie.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412209308

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