Die Differenz von Mensch und Theorie angesichts des Todes.

Ein Erinnerungsbuch für Niklas Luhmann.

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie jede große Religion braucht auch die Systemtheorie einen Religionsstifter. Diese Rolle wird nicht von dem Betreffenden selbst gefordert oder eingenommen, sondern von jenen ihm an- und zugerechnet, die ihn persönlich gekannt haben. Jenen kommt deswegen eine entscheidende Mittlerrolle zu: Sie können ihre Erfahrungen und Erlebnisse an diejenigen weitergeben, die den Meister nur aus seinen Schriften kennen.

So kommt der Erinnerung, nicht zuletzt in der Form des Anekdotischen, die traditionstiftende Funktion zu. 41 solcher Erinnerungen versammelt der vorliegende Band und bringt somit viele Schüler und Zeitgenossen (weniger Kollegen) zusammen, deren wissenschaftliche Laufbahn fast durchweg durch Luhmann nachhaltig geprägt wurde.

Zugegeben, diese Religionsmetapher ist etwas respektlos. Aber einerseits greife ich hier nur eine Metapher auf, die in einigen der Beiträge selbst vorkommt, wo - natürlich immer auch ein bißchen gebrochen - vom Meister oder vom Pilgern die Rede und das Epiphanische einer Persönlichkeit ist. Und andererseits kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Luhmann hier eine große und durchaus echte Verehrung entgegengebracht wird, die die Erinnerung trägt.

So zielt diese Metapher auf einen Spannungspunkt, von dem dieser Band lebt. Dass solche Erinnerungsbände immer von der Konfrontation von Leben und Werk eines großen Denkers, Philosophen, Wissenschaftlers geprägt sind, ist ein Topos, der sich in unterschiedlichsten Ausprägungen im Gefolge vieler Geistesgrößen nachverfolgen läßt. Dabei wird immer der Mensch einerseits mit dem Genie andererseits, der private Teil mit dem wissenschaftlichen, die intime Kenntnis gegen das Bild der Öffentlichkeit gestellt und bisweilen auch ausgespielt. Immer wird die Doppelung herausgehoben zwischen dem Menschen wie du und ich und demjenigen, der uns Normalsterbliche eben doch irgendwie transzendiert.

Genau dieser Topos erhält bei den Erinnerungen an Luhmann eine besondere Schärfe. In der Tat war Luhmann ein Wissenschaftsstar wider Willen, einer, der sich wenig Mühe machte, sich groß in Szene zu setzen, und der gerade deswegen ein um so einprägsameres Bild abgab: klein, schlicht, bescheiden, höflich, dezent gekleidet - nahezu alle Beiträge beschwören gerade auch diese äußere Erscheinung Luhmanns.

Diese paradoxale Bewegung, in der Aura gerade durch ihre konsequente Verweigerung um so nachhaltiger entsteht, findet allerdings im Verhältnis der Luhmann-Verehrung zu seiner Theorie eine besondere Pointe. So hat die Systemtheorie eine Rationalität entwickelt, die als Systemrationalität mit ihrer kalkulierten Kälte alle Rationalitätsmodelle, aber auch jede Form postmoderner Rationalitätskritik weit hinter sich gelassen hat. Mit ihrem berühmten Diktum, dass nur Kommunikation, nicht aber der Mensch kommunizieren könne, hat sie in genau dieser Drift den Menschen aus der Theorie exiliert und damit in einer groß angelegten Selbstreflxionsbewegung sich selbst als Theorie der Theorie installiert. Gegenüber dieser sich selbst theoretisierenden Theorie nun doch noch ihren Urheber in Erinnerung zu rufen, schafft einen Reiz, von dem alle Beiträge des Bandes leben. Wer war der Mensch, der den Menschen aus seiner Theorie verbannte? Und vor allem: Wie war er als Mensch? Die Antwort kann nur so ausfallen: Als Mensch war er sehr menschlich, eben auch mit seinen Marotten, aber dennoch alles andere als kalt oder selbstbezüglich, sondern warmherzig und offen für seine Mitmenschen, insbesondere in jenem eigentümlichen Milieu, das man Universität nennt.

Hier tut sich eine Differenz auf, die letztlich von der Systemtheorie wie auch von keiner anderen Theorie mehr eingeholt werden kann. Es ist nicht die Differenz zwischen Theorie und Urheber, sondern es ist die Differenz zwischen dem, was eine Theorie zu leisten imstande ist, und demjenigen, was ihr prinzipiell, eben weil sie Theorie ist, grundsätzlich verschlossen bleiben muss. Und das ist die persönliche und immer auch je individuelle Erfahrung, und es ist insbesondere die Erfahrung des Todes. An diesem Punkt "tritt das Medium Sinn in Widerspruch zu sich selbst", so zitiert Dirk Baecker Niklas Luhmann und leitet damit das Erinnerungsbuch ein. Aber gerade in einer solchen letzten Differenz gewinnt auch eine so kalte und technizistisch anmutende Theorie wie die Systemtheorie ihr menschliches Antlitz. Es stimmt, was der andere Herausgeber in seiner Erinnerung schreibt: "Den Menschen nicht im Sozialen, sondern in der Umwelt sozialer Systeme zu verorten, war Ausdruck der unbedingten Anerkennung der Autonomie eines jeden einzelnen."

Genau an dieser Differenz sind alle Erinnerungen angesiedelt. Hinzu kommt, dass alle Beiträger entweder ausgewiesene Fachleute in Sachen Systemtheorie sind oder zumindest dieses Theoriegebäude in seinem innersten Kern kennen. Dass sie auch diese letzte Differenz kennen, macht sich an unzähligen Stellen bemerkbar. Es ist genau die Anerkenntnis dieser Differenz, die es allen erlaubt, sich an den Menschen Niklas Luhmann zu erinnern und ihn gerade in Differenz zu seiner Theorie zu sehen. In den Erinnerungen selbst macht sich diese Differenz auf eine spezifische Weise bemerkbar: Wo es in allen Beiträgen sowohl um Niklas Luhmann als auch um seine Systemtheorie geht, entfalten sie die Differenz zwischen der je persönlichen Bekanntschaft und z. T. auch Vertrautheit mit Niklas Luhmann und der allgemeinen Theorie, also zischen dem, was vielleicht immer inkommunikabel bleiben und was kommunikabel sein muss. So entsteht der Eindruck einer Einheit der Differenz von Mensch und Theorie - sozusagen eine Einheit höherer Ordnung, wie sie Niklas Luhmann in jeder Hinsicht verkörperte. Daher kann das Buch seinen Reiz vielleicht nur für diejenigen voll entfalten, die die Systemtheorie zumindest in ihren Grundannahmen kennen, aber dieser Reiz kann einen schon, sofern man ein bisschen Interesse für Niklas Luhmann mitbringt, in seinen Bann schlagen.

Titelbild

Theodor M. Bardmann / Dirk Baecker: Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch? Luhmann.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2000.
192 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3879406960

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