Die Bibel – vertraut, fremd, schwierig und verlockend

Über Andrea Polascheggs und Daniel Weidners Sammelband

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Bibel“ und „die Literaturwissenschaft“ – dies sind die Themenkreise dieses von Andrea Polaschegg und Daniel Weidner herausgegebenen Bandes, Themenkreise, die sich natürlich überschneiden. Da die Bibel traditionell als „das Buch der Bücher“ gilt und ein Vorläufermodell der Dichtung überhaupt ist, kommt eine Literaturwissenschaft, die sich mit der Bibel befasst, „gewissermaßen zu sich selbst“ (wie die Herausgeber in ihrer Einleitung sagen). Mehrfach wird in diesem Werk das neu erwachte Interesse an der Religion in unserer Gesellschaft genannt. Diese religiöse Renaissance war offenbar der Anlass für die Tagung 2010 in Berlin, an der Humboldt-Universität und am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, aus der dieser Band hervorgegangen ist.

Soll die uferlose Forschung zu Bibel und Literatur hier einfach weitergeführt werden? Das ist nicht die Absicht. Der Ausgangspunkt des Bandes ist die Einsicht, dass die literaturwissenschaftliche Bibelbetrachtung eminent schwierig ist, und zwar liegt die Schwierigkeit darin, dass die scheinbar vertraute Bibel ein fremder Text ist, kulturell wie historisch. Zwei Leitfragen, so erscheint mir, durchziehen die 22 Beiträge dieses Bandes. Zum einen: Kann man biblische Texte überhaupt traditionell-literaturwissenschaftlich interpretieren? Sind es doch diffizile und extravagante Texte, die nicht nur einen allwissenden Erzähler haben, sondern in denen die Allwissenheit selbst ein Thema ist, und obendrein hochgradig selbstreferentielle Texte, die das Lesen, das Gelesenwerden und die Aufforderung zum Lesen zur Sprache bringen. Und zum andern die noch wichtigere Frage: Wie soll der Literaturwissenschaftler mit dem Eigentlichen der Bibel, ihrem religiösen Gehalt, umgehen, wie also kann er, ich zitiere wieder aus der Einleitung, gerade die Religion als „ein genuin poetisches Moment“ begreifen? Dieser Band stellt sich also einem hohen Anspruch. Es ist vor allem ein Anspruch, der vom Interpreten verlangt, das Selbstverständnis seines Faches zu verlassen. Um es gleich zu sagen: Der Band erfüllt seinen Anspruch.

Sehr gut hingeführt zu diesen Problematiken wird man von den beiden Essays über die Johannesapokalypse, der eine zu Beginn des Bandes, der andere gegen Ende. Diese Apokalypse wolle nichts als „Wort“ sein, träume von der „Unmittelbarkeit des Wortes“ (Daniel Fehr), und im Mittelalter habe man in radikaler Weise schon ihre poetische Sprache als „Ausweis ihrer Gottursprünglichkeit“ angesehen (Christine Stridde). Die Ästhetisierung des Religiösen wird zum Freiraum für die religiöse Entfaltung des Gläubigen. Stark rezeptionsgeschichtlich orientiert sind die Arbeiten über den Bibelbezug bei Jean Paul (von Jadwiga Kita-Huber), über Bibelzitat und -übersetzung bei Ingeborg Bachmann (von Giulia Radaelli) und über die Figurationen des Messianischen bei Hermann Broch und in dessen Vorbild, der Religionsphilosophie Hermann Cohens (von Elke Dubbels). Die eben genannte Verbindung zwischen dem Religiösen und dem Poetischen wird dabei angesprochen; in dem Jean-Paul-Aufsatz in der Weise, dass dargestellt wird, wie Jean Pauls Wort von der „Brotverwandlung“ eine provokante Umschreibung seines Poesieverständnisses ist. Ein Begriff aus Jesu Abendmahl wird zu einer Metapher für den Übergang vom Körper zum Geist. Beeindruckend ist der Essay (von Friedmar Coppoletta) über Theodor Fontanes Roman „Unwiederbringlich“. Die Bibelbezüge erscheinen gleichmäßig über den Roman verstreut, und zwar in spielerischer Weise, doch sind sie gekoppelt an die „Losungspraxis“ der Herrnhuter. Fontane arbeitet demnach nicht nur mit biblischen Fragmenten, sondern auch mit „Textgebräuchen“, also mit der Gepflogenheit, solche Fragmente im Alltag als Ratgeber zu benutzen. Diese Arbeit auf zwei Ebenen ist eine fontanesche Finesse, die nur der würdigen kann, dem biblische Textgebräuche im Alltag, bei den Herrhutern oder anderswo, bekannt sind.

Eine scharfsinnige Studie (von Nina Irrgang) widmet sich dem jüdischen „Aristeasbrief“ aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus, der legendenartig die Entstehung der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, erzählt. Der Verfasser dieses Briefes verbinde in „einem hohen Maß an Selbstreflexion“ seine Überzeugung vom „Göttlichen“ der Bibel mit seinem tiefen Verständnis für den „hellenistischen Kulturbetrieb“, und dabei parallelisiere er zwei Momente des Schreibens, nämlich die Verkündigung des Dekalogs am Sinai durch Gottes Handschrift und die Schreibszene der klugen Übersetzer. Der „Aristeasbrief“, in der Forschung bisher als literarisch belanglos gewertet, wird in dieser Studie als ein Kunstwerk erkannt, das typisch für die damalige gebildete Oberschicht in Alexandria, dem Ort seiner Entstehung, und die Maßstäbe dieser Schicht ist.

Wie das Beispiel des „Aristeasbriefes“ zeigt – welcher durchschnittlich Gebildete kennt ihn schon? –, scheut dieser Band keineswegs die ausgefallenen Themen. Die Lektüre und das Nachvollziehen der Forschungslinien sind oft nicht einfach, die Autoren und Autorinnen sind Spezialisten der Text-, Religions- und Orientwissenschaften. Doch enthält der Band auch Teile, die in erster Linie der Information dienen. So die Artikel über spezielle Bibel-Editionen. Sie besprechen die „Volxbibel“ – eine Bibel in Jugendsprache, bei der Version „Volxbibel-Wiki“ sogar interaktiv –, die „Bibel in gerechter Sprache“ – wo „Hirten und Hirtinnen“ auf dem Felde sind –, die „Twitter-Bibel“ und, wir gehen ins Mittelalter, die „Armenbibel“, die das Schema alttestamentliche Ankündigung/neutestamentliche Erfüllung bildlich umsetzt. Auch diese Beiträge (von Manuel Illi, Alexander Dölecke, Ralf Schlechtweg-Jahn) sind sehr perspektivenreich. Sie machen deutlich, dass derartige volkstümliche oder parodistische Verformungen nur dadurch bestehen können, dass die biblischen Texte selbst in der Welt noch gegenwärtig sind. Überhaupt enthält der Band allerlei interessante Nachrichten. So wurde, erfährt der unkundige staunende Leser im Artikel über Judas, vor einigen Jahren das verschollene „Judasevangelium“ entdeckt und gedruckt.

Einige Aufsätze sind Interpretationen von biblischen Texten. Das „Hohelied“, diese Liebespoesie des Alten Testamentes, wird hinsichtlich des Motivs der Liebeskrankheit interpretiert, und zwar mittels des modernen Begriffes Trauma; und diskutiert werden die mehrdeutigen Darstellungen der Figuren Batseba – die Geliebte Davids – und Judas Ischariot (Katharina Schoppa, Andrea Fischer, Almut-Barbara Renger). Im letzten Fall geht es um ein einzelnes Wort und seine Übersetzung: Hat Judas seinen Herrn „verraten“ oder nur den Soldaten „übergeben“? Im Johannesevangelium ist Judas ein Teufel, bei Klopstock ein ungeduldiger und dann habgieriger Jüngling, bei dem protestantischen Theologen Karl Barth ein „Diener des Versöhnungswerkes“ und im Rockmusical „Jesus Christ Superstar“ von Webber/Rice derjenige, der Jesus vor seinen falschen Verehrern schützt. Eine Schlussfolgerung lautet: „Kennzeichen von Mythizität ist immer schon Ambiguität.“

Doch achten wir auf das Ganze, und erinnern wir uns an die beiden Leitfragen: Können die erzähltechnisch überaus diffizilen Bibeltexte literaturwissenschaftlich interpretiert werden? Wie kann der Wissenschaftler gerade das Religiöse als etwas Poetisches begreifen? Natürlich gibt es keine klaren Antworten. Die Studien dieses Bandes setzen sich offen und gründlich mit diesen Problemen auseinander. Sie beweisen, dass man in ganzheitlichen, die Einzeldisziplin überschreitenden Beobachtungen das Religiöse, das Poetische und das erzähltechnisch Extravagante zusammen erfassen kann. Diese Analysen, Entschlüsselungen und Bewertungen kommen ungeahnten Mehrdeutigkeiten auf die Spur. Sie sind äußerst anregend für die weitere Forschung; und dies oft gerade dadurch, dass sie die großen Hintergründe, die bisherige Ausstrahlung der Bibel in die Kultur und die Textwissenschaften, eben die Höhepunkte der biblischen Rezeptions- und Gebrauchsgeschichte, intensiv berücksichtigen.

Ein kurzes Resümee des Buches? Der Literaturwissenschaftler, der die Bibel zur Weltliteratur erklärt, darf den Theologen nicht verachten. Und umgekehrt.

Titelbild

Andrea Polaschegg / Daniel Weidner (Hg.): Das Buch in den Büchern. Wechselwirkung von Bibel und Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2012.
397 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552436

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