Faszinosum ‚Erzählen‘

Das von Matiás Martínez herausgegebene „Handbuch Erzählliteratur“ perspektiviert die Narratologie systematisch, historisch und transdisziplinär

Von Julia IlgnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Ilgner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erzählen ist eine komplexe, anthropologische Grundkonstante“, ein Bedürfnis menschlichen Miteinanders seit Urzeiten, sei es mündlich oder vermittelt über das gedruckte Wort. Erzählen ist auch, so ließe sich ergänzen, eines der populärsten wie auch anschlussfähigsten Forschungskonzepte in den vergangenen Jahren. So gesehen ist ein Handbuch als Kompendium, das traditionellerweise komplexe Zusammenhänge in konzentrierter Form darstellt, für die deutschsprachige Forschungslandschaft längst überfällig und reagiert auf den Boom narratologischer beziehungsweise erzähltheoretischer Ansätze in den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Nicht nur die klassischen Sprach- und Literaturwissenschaften, sondern auch vermeintlich aphilologische Fächer wie Ethnologie, Geschichte, Politik und Medizin richten ihr Augenmerk zunehmend auf das Erzählen als Kommunikationsakt und auf die erzählerische Gemachtheit ihres jeweiligen Gegenstands, im Falle historiografischer Zeugnisse ebenso wie im Falle protokollierter Patientengespräche.

Angesichts des disziplinären Pluralismus hinsichtlich Anwendungsbereich, Erkenntnisinteresse, Methodik und Begrifflichkeit erscheint es nur folgerichtig, dass der Band die Handschrift einer Einrichtung trägt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das fachlich je unterschiedlich motivierte Interesse am Erzählen zu bündeln und institutionell zu koordinieren. Das noch vergleichsweise junge Zentrum für Erzählforschung (ZEF) ist unter Federführung der Germanistik seit 2007 an der Bergischen Universität Wuppertal installiert und für die deutsche Forschungslandschaft einzigartig. Herausgegeben hat den Band Matías Martínez, derzeit geschäftsführender Direktor und Gründungsmitglied des ZEF und auf dem Gebiet bestens ausgewiesen: Seine jüngst in neunter Auflage erschienene „Einführung in die Erzähltheorie“ (erstmals 1999) sowie die neueren „Klassiker der modernen Literaturtheorie“ (2010, beide gemeinsam mit Michael Scheffel) haben ganze Generationen von Sprachstudenten begleitet. Einen disziplinen- und genreübergreifenden Zugang hat ferner der Band „Wirklichkeitserzählungen“ (2010, gemeinsam mit Christian Klein) erprobt, dessen Anliegen, die gegenüber den fiktionalliterarischen vernachlässigten faktualen Narrationen (realitätsbezogene ‚Erzählungen‘ aus Bereichen wie Politik, Recht und Wirtschaft) systematisch zu erfassen, sich noch im Handbuch widerspiegelt. So ist das Spektrum der beteiligten Autorinnen und Autoren recht breit aufgestellt und lässt – neben arrivierten Beiträgern – auch Nachwuchswissenschaftler zu Wort kommen. Die vermeintliche Prävalenz germanistischer und anglistischer Beiträge sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die AutorInnen in der Mehrzahl auch medienwissenschaftlich, kognitionswissenschaftlich oder sozialhistorisch arbeiten.

Der Aufbau des Bandes wirkt trotz des theoretisch komplexen Gegenstands eher konventionell und erinnert an vorangegangene Titel der inzwischen auf knapp einhundert Bände angewachsenen Reihe der Metzler Handbücher. Unter der Trias „Theorie – Analyse – Geschichte“ subsummiert der Band theoretische Aspekte wie Medialität, Anthropologie und Funktionen des Erzählens (Sektion A), zentrale analytische Begriffe wie Erzählstimme, Figur, Zeit und Raum (Sektion B) sowie schließlich einen historischen Abriss über Genese und Grundzüge der abendländischen, primär west-europäischen Erzählliteratur von der Antike bis hin zur Postmoderne (Sektion C).

In ihrer Binnengliederung folgen die Artikel keinem ganz stringenten Muster, was jedoch den individuellen Bedingungen des jeweils dargestellten Aspekts geschuldet ist. Konsequent einheitlich eröffnet eine allgemein-verständliche Explikation die Beiträge, die wesentliche Charakteristika und Entwicklungslinien des narratologischen Teilbereichs umreißt, gefolgt von einer Problematisierung und Kontextualisierung. Auf den Abdruck von Schaubildern und Illustrationen wurde weitgehend verzichtet, obschon sie prozessuale Abläufe und kategoriale Abhängigkeiten textbegleitend luzid und verständlich abbilden können, wie der Beitrag zur Pragmatik des Erzählens von Christian Klein und Lukas Werner überzeugend vorführt. Leserfreundlich nimmt sich die Entscheidung aus, die zum Teil recht umfassende Forschung in die Einzelkapitel zu integrieren. Dass häufige Zitieren aus der Forschungsliteratur und die wiederholte Erläuterung fachspezifischer Termini erleichtert es, auch weniger geläufige Standpunkte nachzuvollziehen. Die Historizität des eigenen Sachgegenstands kommt dennoch keinesfalls zu kurz. Wenn auch auf einen Beitrag zur ‚Geschichte der Erzähltheorie‘ im klassischen Sinne verzichtet wurde, so deshalb, weil sich kaum eine kontinuierliche Entwicklungslinie, geschweige denn ein theoretisch exklusiver Ursprung ausmachen lässt. Vielmehr präsentiert sich die Narratologie heute als Ergebnis ganz unterschiedlicher, konvergierender und nach wie vor präsenter Richtungen, wie sie ein knapp 20-seitiges forschungsgeschichtliches Kapitel zusammenzufassen sucht. Dieses folgt in Konzeption und Platzierung primär anwendungsorientierten Bedürfnissen: So ermöglicht es nicht nur, die „Hauptströmungen der modernen Erzähltheorie“ (die formalistische/strukturalistische Schule um Propp, Bachtin und Lotman, kontextorientorientierte (Lukács, Iser) und empirisch-kognitivistische Ansätze, unter anderem in Rekurs auf die Psychonarratology und kognitive Narratologie um Manfred Jahn) aus größerer Perspektive genetisch nachzuzeichnen. Die Positionierung direkt vor den erzählanalytischen Grundbegriffen erleichtert es maßgeblich, diese in ihrer aktuellen Auslegung und zugleich als historisch gewordene Kategorien zu verstehen.

Vornehmlich der erste Teil zeugt von dem eingangs formulierten Anspruch, möglichst viele Anwendungsgebiete in die Darstellung zu integrieren und dabei zugleich aktuelle Fragen und Konjunkturen der Forschung zu berücksichtigen. So dürfte die Synthese (psycho-)linguistischer und tradierter erzähltheoretischer Ansätze (A, III: „Psychologie des Erzählens“) nicht nur für die Gedächtnisforschung weiterführend sein, sondern auch Bereiche im Kontext von Literatur und Emotionalität beziehungsweise Literatur und Wissen berühren. Analoges gilt für die Cultural Studies und die von Ursula Kocher und Michael Scheffel bearbeitete Sektion zur Anthropologie des Erzählens (A, VI). Die ganz unterschiedliche wissenschaftliche Tradition der einzelnen Autorinnen und Autoren zeigt sich im Medialitäts-Kapitel. Neben Monika Fluderniks einschlägigem Beitrag über mündliches und schriftliches Erzählen, der Typen des ersteren ausdifferenziert (unter anderem in Alltagserzählungen und institutionalisiertes Sprechen) und mögliche Wechselwirkungen zwischen beiden in den Blick nimmt (in Form fingierter Mündlichkeit in Erzähltexten), wird auch auf visuelle, auditive oder materielle Realisationen des Erzählens Bezug genommen. Hier konterkariert jedoch gelegentlich das Bemühen, das artfremde Medium plastisch darzustellen, die Angleichung in theoretischer Hinsicht, sodass die an anderer Stelle dargelegten narrativen Modi und Instanzen kaum zur Anwendung gelangen. Inwiefern jedoch eine konsequente erzähltheoretische Perspektivierung eines nicht-textuellen Mediums dessen ‚Sprache‘ und Vermittlung erhellen kann, führt Markus Kuhn anhand des Films vor. Kuhn, als Medienwissenschaftler wie auch durch seine Dissertation im Themenbereich („Filmarratologie“, 2011) ausgewiesen, überträgt zentrale Analyseaspekte auf den Film und differenziert zwischen Vermittlung, Erzählposition, Perspektivierung und konkurrierenden Codes wie Bild, Ton und Text, ohne die Entwicklung und Wandelbarkeit des Mediums aus dem Blick zu verlieren.

Ohne Einschränkung gelungen sind in der Folge Konzeption und Darstellung der bereits erwähnten erzählanalytischen Grundbegriffe (Sektion B). Die womöglich zunächst irritierende geringe Anzahl (insgesamt werden fünf Kategorien behandelt: Erzählstimme, Perspektive, Figur, Zeit und Raum) erweist sich als kluger Griff, will man die disparaten Konzepte und Begriffsprägungen unterschiedlicher Schulen (siehe Kapitel 1, VI) sowie die umfangreiche Einzelforschung summarisch – und verständlich – fassen. So erörtert beispielsweise Wolf Schmid nicht nur konkurrierende Erzählerkonzepte hinsichtlich ihrer jeweiligen binnenhierarchischen Strukturierung, auch illustriert er erhellend deren Anwendung in wiederholten Verweisen auf die Weltliteratur. Obschon die potentielle Vielfalt narrativer Erscheinungsformen in der Literatur hier bestenfalls angedeutet werden kann, gelangen kategoriale Grenzen und noch mehr: Grenzüberschreitungen zur Darstellung – etwa im Falle von Melvilles Seefahrtsepos „Moby-Dick“ (1851), dessen erzählendes Ich mitunter über transzendentes Wissen zu verfügen scheint.

Allenfalls in Frage zu stellen wäre die Notwendigkeit des literaturgeschichtlichen Teils, das die Entwicklung der Erzählliteratur von der griechischen Antike bis hin zur Gegenwart nachzeichnet – zumal dieser in weiten Teilen den deutschen Sprachraum fokussiert und so für einzelne Epochen ohne den Dialog mit anderen Nationalliteraturen und (nicht-erzählenden) Gattungen wenig Profil gewinnt. Hinzu kommt, dass Altertum und Mittelalter insgesamt unterrepräsentiert bleiben und die Beispiele im Wesentlichen der modernen und postmodernen Literatur entnommen sind.

Während ferner in den systematisch-theoretischen Teilen des Handbuchs immer wieder versucht wurde, eine transdisziplinäre Perspektive einzunehmen und auch Beispiele aus anderen Kontexten wie alltagsrelevante Aspekte der Kompetenzerwerbung und Kommunikation zu berücksichtigen, weist der historische Part lediglich vereinzelt Quer- beziehungsweise Rückbezüge auf. Beispielsweise hätten die zuvor entwickelten medialen Erzählweisen aussichtsreich in die historische Genese integriert, der Einfluss der Oper im 17. Jahrhundert, die filmische Konkurrenz im frühen 20. Jahrhundert (und ihr narratives Innovationspotential) gewürdigt werden können. Angesichts der Gesamtleistung ist diese vermutlich auch Studien- und Kanonbelangen geschuldete Konzeptionsfrage jedoch sekundär, zumal sich der Band auch als Handbuch der Erzählliteratur und nicht der Erzähltheorie verstanden wissen möchte (auch wenn die Übergänge wohl fließend sind).

Keinesfalls aber sollte sie überdecken, dass dem Herausgeber Matías Martínez und allen Beteiligten ein ambitioniertes Publikationsprojekt geglückt ist, das auf das transdisziplinär gestiegene Interesse an Bedingungen, Modi und Funktionen des Erzählens reagiert. Dass man trotz verschiedenster wissenschaftlicher Provenienz eine gemeinsame Linie und Sprache gefunden hat, welche die im Einzelfall notwendige Spezifik nicht der Homogenität der Darstellung opfert, ist nicht selbstverständlich. Das sorgsame Lektorat trägt seinen Teil dazu bei. In seinem vorzüglich eingelösten Anspruch, den disparaten Forschungsstand zur Narratologie zu sichern und übersichtlich darzustellen, übertrifft das Kompendium die primär anwendungsorientierten Einführungen und ist auch mehr als ein bloßes Pendant zu dem anglistischen, als Sammelband konzipierten „Handbook of Narratology“ (hrsg. von Peter Hühn u. a. 2009). Dass dabei notwendig Aspekte ausgeblendet werden müssen und eine vollständige Darstellung des Sachfeldes nicht geleistet werden kann, versteht sich von selbst. Bei einem solchermaßen gefragten und dynamischen Paradigma, an dessen Fortschreibung so unterschiedliche Teilnehmer mitwirken, liegt es in der Natur der Sache, dass die Systematisierung und Sicherung des status quo zwangsläufig ein vorläufiges Unterfangen bleibt, sofern man sich nicht für unkonventionelle Publikationsformen mit wiederum anders gearteten Stärken und Schwächen (wie das Online-Projekt „Living Handbook of Narratology“ als Open-Access-Fortführung der zitierten Printfassung) entscheidet. Ein Grund mehr für eine zweite (und dritte…) Auflage!

Titelbild

Matias Martinez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2011.
310 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023476

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch