Familiengeschichte unter dem Faschismus

Über Antonio Pennacchis Roman: „Canale Mussolini“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man stelle sich vor, in Deutschland würde ein Roman über Adolf Hitlers Autobahnen und die Begeisterung der Deutschen für ihren Führer veröffentlicht. Es wäre ein Skandalbuch, bevor es jemand gelesen hätte. Nun hat der Roman von Antonio Pennacchi in Italien zwar eine heftige Diskussion ausgelöst, wurde aber mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, dem „Premio Strega“, ausgezeichnet. Um es vorwegzunehmen, diese Auszeichnung hat er auch verdient. Worum geht es im Roman?

Es ist die autobiografisch geprägte Geschichte der Großfamilie Peruzzi, einer armen Landarbeiterfamilie, die irgendwo im Norden Italiens lebte, ob in Ferrara, Venetien oder Friaul wird nicht endgültig geklärt, die aus dieser Gegend jedoch umgesiedelt wurde in die Gegend der pontinischen Sümpfe, die in einem großen Projekt trockengelegt werden sollten. Es ist gleichzeitig die Geschichte Italiens von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre, die aus der Perspektive der Peruzzis erzählt wird. Daher darf man nicht erwarten, dass hier historisch korrekt die allgemeine Geschichte Italiens dieser Jahre verhandelt wird, aber die Grunddaten stimmen: Erster Weltkrieg, der Krieg in Abessinien, wie es damals hieß, der Marsch auf Rom, der Faschismus, die Trockenlegung der pontinischen Sümpfe, der Zweite Weltkrieg, der Kampf um Monte Cassino und auch die Landung der Alliierten in Italien.

Ausgelöst wurde die Umsiedlung der Peruzzis als Folge ihrer prekären Situation durch die Folgen eines Gesetzes des faschistischen Regimes unter Mussolini, das Gesetz der Quote 90. Dieses Gesetz begünstigte den Staat und die Großgrundbesitzer und führte zur endgültigen Verarmung der Landbevölkerung, von der viele als Pächter arbeiteten. Als man das Vieh der Peruzzis vom Hof abholen will, wehrt sich ein Sohn der Familie, Aldiche, und schießt mit einem Gewehr auf die Carabinieri und die Leute des Grafen Zorzi Vila. Doch er wird überwältigt, verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. Da erinnert sich die Großmutter, dass ihr Mann 1904 den heute mächtigen Rossini gerettet und mit ihm einen Monat lang in einer Gefängniszelle alles geteilt hat, was es zu teilen gab.

Während einer verbotenen Veranstaltung war es zu einer Auseinandersetzung mit den Carabineri gekommen, und der Student Rossini hatte in größter Bedrängnis „Peruzzi hilf mir“ gerufen, was dieser, obwohl unbeteiligt, auch mit allen Kräften tat, woraufhin er und Rossini von den Carabinieri verprügelt und verhaftet wurden. Von der Großmutter beauftragt, fährt Pericle, der Rossini seit seiner Kindheit auch kannte, mit zwei Brüdern nach Rom, um bei dem mächtigen Freund, der nun die Nummer 2 hinter Mussolini ist, zu intervenieren. Dies gelingt auch, und diese Freundschaft und diese Dankbarkeit strukturieren die Beziehung der Peruzzis zum Faschismus. Durch diese persönliche Beziehung haben die Peruzzis Vorteile, bekommen in dem neu zu erobernden Land in den pontinischen Sümpfen einen Bauernhof sowie Land und werden mehr sympathisierende als ideologische Faschisten. Sogar der Duce hat zu Beginn seiner Karriere Kontakt zur Familie, er repariert auf dem Hof gekonnt eine Egge und ist augenscheinlich von der Großmutter angetan.

Außer dieser Episode wird er aber durchaus als Operettenfigur dargestellt, der Hitler erst als Parvenü ablehnt, um ihm dann wie ein Hündchen zu folgen. Man kann diese Entwicklung der Familie von Sozialisten zu faschistischen Anhängern beispielhaft als politische und psychologische Fallstudie für das faschistische Italien lesen. Wie diese Geschichte erzählt wird, macht eine weitere Besonderheit des Romans aus. Ein Erzähler, er bezeichnet sich als Neffe, berichtet einer ungenannten Person von dieser Zeit und erzählt die vielfältigen, amüsanten, lustigen, traurigen und tragischen Geschichten dieser Familie. Durch diese Konstruktion ist es möglich, an Stellen, die den historischen Erkenntnissen oder der Logik widersprechen, und davon gibt es in dieser prallen Familiengeschichte nicht wenige, Widerspruch anzumelden oder noch einmal zu fragen. Man erfährt übrigens erst auf der letzten Seite, wer der Erzähler ist und ist mit einem Mal wieder mitten in der Familiengeschichte. Verraten wird hier die Identität des Erzählers natürlich nicht, da dem Leser nicht vorzeitig der Spaß genommen werden soll.

Im Mittelpunkt steht also die Familie Peruzzi. Der Großvater Peruzzi hatte 17 Kinder, 8 Mädchen und 9 Buben. Diese Großfamilie hat sich dann aber aus politischen Gründen getrennt, nur ein Teil ist in die pontinischen Sümpfe gezogen. Mit seinen Söhnen Aldechi, Pericle, Temistocle, Iseo zieht also der Großvater auf den ihm zugewiesenen Hof in den pontinischen Sümpfen. Es werden die Entbehrungen, der Verlust der norditalienischen Heimat, die feindselige Aufnahme durch die einheimische Bevölkerung aus den umliegenden Bergen und die Strapazen und Qualen der Sümpfe und der schwierige Alltag auf dem Bauernhof geschildert. Damals sorgte noch die Stechmücke Anopheles für unzählige Malariaerkrankungen und Tote, was den Aufbau und Betrieb einer Landwirtschaft erschwerte.

Aber nicht nur der Alltag als Bauern oder Pächter bestimmt die Geschichte der Familie, auch die durchaus an ein antikes Epos erinnernden Opfer der Familie durch die Abstellung von Söhnen für die Kriege des Duce oder der anderen Herrscher in Italien spielen eine Rolle. Immer wird ein Sohn bestimmt und die anderen Familien der Peruzzis kümmern sich um dessen Familie. Durch Heirat kommen weitere Familien hinzu, so dass man durchaus von einem Familienclan sprechen kann. Beeindruckend und nicht beschönigend sind die Schilderungen der Kampfhandlungen in Abessinien, wo alle Beteiligten grausame Verbrechen begehen, von dem Gaseinsatz der Italiener und der Ausrottung ganzer Dörfer bis zu den Vergeltungen und Angriffen der einheimischen Bevölkerung und Kämpfer.

Neben diesen Episoden kommen natürlich der Alltag und die Liebesgeschichten in dem Clan nicht zu kurz. Eine herausragende Rolle kommt dabei Pericle Peruzzi zu. Er ist der Lieblingssohn der Eltern und auch seine exzentrische und bienenzüchtende Frau Amida wird von den Eltern geschätzt. Amida hat eine verhängnisvolle, aber ergreifende Liebesgeschichte mit ihrem Neffen, aus der ein Kind hervorgeht, was zu schweren Verwerfungen in der Familie führt, denn zu dieser Zeit ist Pericle im Krieg in Afrika und vermisst.

Das Buch lebt von den burlesken, lustigen und teilweise grotesken Episoden in der Großfamilie, deren Gegenwart immer wieder von Rückblicken einzelner Familienmitglieder unterbrochen wird. Interessant auch die Schilderung der gar nicht so beliebten Neusiedler bei den ansässigen Tagelöhnern. Werden die Neusiedler, wie die Peruzzis, als Cispadanier oder Polentafresser abschätzig bezeichnet, so müssen sich die Anwohner der Gegend als Marokkaner beschimpfen lassen. Die Feindschaften spielen aber keine Rolle mehr, wenn eine unverheiratete Frau der Sippe versorgt werden muss und ein Marokkaner sie als Frau nimmt. Ob er etwas von der Landwirtschaft versteht oder nicht, das ist egal, die anderen bringen ihm alles Nötige bei.

Da die Geschichte der Peruzzis und des Canale Mussolini von einem Nachfahren erzählt wird, werden auch Verbrechen und die Unterdrückung im faschistischen Italien nur insofern erzählt, als sie in der Familiengeschichte eine Rolle spielen. Dies mag man als beschönigende Darstellung des Faschismus kritisieren, aber andererseits gelingt es Pennacchi, das Klischee vom guten oder des bösen Italieners während des Faschismus zu vermeiden. Vielmehr zeigt er exemplarisch die Ambivalenz der Anhänger und die Ursachen für die Sympathie der einfachen Bevölkerung für diesen Faschismus. Dabei kann er seine Sympathie für diese einfachen Menschen nicht verhehlen, ohne etwas zu beschönigen. Was will man von einem Roman, der dazu noch hervorragend erzählt ist, mehr verlangen?

Titelbild

Antonio Pennacchi: Canale Mussolini. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
448 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238602

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