Ein Privileg des Humanen

Mit Édouard Levés Roman „Selbstmord“ imitiert der Tod die Kunst

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sei, so schrieb Jean Améry 1976 in „Hand an sich legen“, ein „Privileg des Humanen“, das eigene Leben selbstbestimmt beenden zu können; ein Privileg, das der Autor zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Bandes auch für sich selbst in Anspruch nahm. Obgleich Améry in seinem „Diskurs über den Freitod“ den ethisch fragwürdigen und aus christlich-theologischer Perspektive todsündenhaften „Selbst-Mord“ als semantisch weitaus weniger negativ besetzten „freien Tod“ darstellt, bei dem ein Mensch bewusst beschließt, aus dem Leben zu scheiden, so bleibt der Akt der Selbsttötung dennoch hochproblematisch und dies nicht nur, wenn er, etwa in Form eines „assistierten Suizids“, gar noch die Mithilfe einer weiteren Person impliziert. Denn während der Freitod dem Suizidanden – ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt – Erlösung von einem scheinbar nicht mehr zu bewältigenden Leiden verheißt, löst der Selbstmord eines Angehörigen oder eines Freundes bei den Hinterbliebenen wohl zumeist Ratlosigkeit, Verzweiflung und maßlose Trauer aus.

Das breite Spektrum von Gefühlen, mit denen man sich in seiner solchen Situation konfrontiert sehen kann, gestaltet Édouard Levé in seinem Roman „Selbstmord“, für den er just die Perspektive eines solchen Hinterbliebenen wählte: Im französischen Original als „Suicide“ bereits 2008 veröffentlicht, erscheint dieses mit 110 Seiten schmale Bändchen nun mit relativ großer zeitlicher Verzögerung in Claudia Hamms Übersetzung auch erstmals auf Deutsch. Es ist eine paradoxe Kommunikationssituation, die Levé in seinem Roman kreiert – eine Ansprache des Erzählers an einen Jugendfreund, der ihm allerdings nicht antwortet, ihm nicht mehr antworten kann, da er zu Beginn des Romans bereits tot ist. An einem sonnigen Tag, so rekonstruiert der Erzähler die Ereignisse, verlässt der Freund zusammen mit seiner Frau das Haus, um Tennis spielen zu gehen. Plötzlich macht er kehrt, gibt vor, etwas vergessen zu haben, geht ins Haus zurück, steigt in den Keller hinab und erschießt sich. Nur wenig von dem, was nun folgt, beruht auf tatsächlichem Wissen des Erzählers – er rekonstruiert, interpretiert und imaginiert das Leben und die Situation, vor allem aber die Gefühlslage seines toten Freundes, erinnert sich an gemeinsame Zeiten, versucht indes auch, sich die Geschehnisse während der Phasen, in denen sie sich aus den Augen verloren hatten, vorzustellen.

So entsteht nach und nach das Bild eines nachdenklichen und introvertierten jungen Mannes, der glücklich verheiratet und beruflich erfolgreich war, der aber auch unter Depressionen litt und die Auswirkungen der ihm dagegen verabreichten Psychopharmaka fürchtete: „Du hast einen Allgemeinmediziner aufgesucht, und er verschrieb dir ein Antidepressivum. Du hast es eingenommen, als handele es sich um ein Experiment. Nach einigen Tagen verspürtest du ein eigenartiges Gefühl von Fremdsein. Du hörtest Worte aus deinem Mund kommen, als seien sie die eines anderen. Deine Gesten wurden brüsk. […] Am Abend hinderte dich Nervosität am Schlafen. In den ersten Tagen warst du vor Schlafmangel trunken wie nach einer durchgemachten Nacht. Doch nach zwei Wochen waren deine Reserven erschöpft. Deine Schlafstörungen machten doch benommen. Du wurdest blöde. Dein Gedächtnis setzte aus.“

Ob diese Auswirkungen der Medikamente allerdings der primäre Grund für den Selbstmord des Freundes waren, bleibt offen: „Eine Erklärung für deinen Selbstmord? Keiner hat sich daran gewagt.“ Es geht Levés Erzähler nicht darum, die an sich „unauflöslichen Widersprüche […] der ‚condition suicidaire‘“, wie es Améry nannte, auflösen zu wollen, noch ist sein Ziel, eine Apologie des Freitodes zu schreiben; vielmehr stellt er das Paradoxe, rational kaum Nachvollziehbare der Tat heraus: „Dein Selbstmord war eine Handlung, die sich zuwiderhandelte: der Ausdruck einer Lebenskraft, die ihren eigenen Tod hervorbringt.“

Für den Erzähler gewinnt der tote Freund eine nicht minder paradoxe Form der Präsenz, die seine eigentliche Anwesenheit zu Lebzeiten weit übersteigt, und er wird für ihn nicht nur zum Gesprächspartner, sondern gleichsam auch zu einem memento mori: „Du machst mich nicht traurig, sondern schwer. Du stehst meiner unverbesserlichen Leichtigkeit im Weg. Wenn ich zu sprunghaft bin und mir aus irgendeinem Grund dein Gesicht erscheint, gebe ich den Leuten um mich herum wieder Bedeutung. Die Dinge nehmen Konturen an, die ich sonst kaum mehr an ihnen wahrnehme. Ich genieße an deiner Stelle, was du nicht mehr kannst. Selbst tot, machst du mich lebendiger.“

Berührend wiederum, gerade in dem sprachlichen Lakonismus, der den gesamten Roman kennzeichnet, ist Levés Darstellung der Versuche des Vaters, die vermeintlich letzte Botschaft seines Sohnes zu erkennen: Ein wohl an einer bedeutsamen Stelle aufgeschlagenes Comicheft lag auf einem Tisch im Keller neben dem Toten, wurde jedoch im Schock von seiner Frau zu Boden geworfen; seitdem versucht der Vater nun, die Bedeutung des Comics zu ergründen: „Dein Vater hat dann Dutzende von Exemplaren gekauft; er verschenkt sie an alle und jeden. Er kennt die Texte und Bilder des Buchs auswendig; [….] Er sucht nach der Seite und auf der Seite nach dem Satz, den du möglicherweise ausgewählt hattest. […] Er zitiert die Sprechblasen des Comics, als seien sie Prophezeiungen.“

Doch auch die Frau des Toten findet noch Botschaften ihres toten Mannes, in Form von 79 Terzetten, die sie in seinem Schreibtisch entdeckt. Eigentlich könnte man diese lyrisch verdichteten, zuweilen aber auch monoton anmutenden Reformulierungen dessen, was man zuvor über den Charakter des Toten schon vom Erzähler erfahren hat, als schwächste Stelle des Romans ansehen, der ansonsten gerade durch die präzise Leichtigkeit des Sprachduktus besticht. Doch könnte man sie eben auch nur ‚eigentlich‘ als Schwachstellen bezeichnen. Tatsächlich, und dies stellt vor allem der französische Klappentext deutlich heraus, scheinen diese Gedichte – ebenso wie die übrigen Aussagen über den toten Freund – stark autobiografische Züge zu tragen: „Dans Suicide, le narrateur s’adresse à un amit qui s’est tué d’un coup de fusil. Apparaît peu à peu l’image d’un homme stoïque, délicat et sensible, qui resemble à l’auteur.“

Mehr noch: Ebenso wie der eigentliche Protagonist seines Romans entschied sich auch Levé, seinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen – anders als dieser hat er sich erhängt und nicht erschossen. Eine Tat, die – und darauf wiederum weist der deutsche Klappentext hin – erfolgte, kurz nachdem sich ein Verleger für „Selbstmord“ gefunden hatte. Dadurch kommt Levés Roman – ob vom Autor intendiert oder nicht – der Status einer Abschiedsbotschaft zu, die nach literarischen Kriterien zu beurteilen schwerlich möglich scheint, und der man kaum unvoreingenommen begegnen kann.

Titelbild

Édouard Levé: Selbstmord.
Übersetzt aus dem Französichen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
112 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215915

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch