Metaphysik des Raumes

Werner Köster untersucht die deutsche Geopolitik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Rede über den 'Raum'", betitelt Werner Köster seine Studie über einen Teilbereich der deutschen Ideologiebildung zwischen dem späten 19. Jahrhundert und 1945. Nicht von ungefähr steht "Raum" hier in Anführungszeichen. Es geht Köster nicht um physikalische Räume, sondern um politisch-geographische; freilich wieder nicht um konkret politisch oder durch Landschaftsformationen abgegrenzte Räume, sondern um: - ja, um was eigentlich?

Die Sache, die die Vertreter der Geopolitik, der politischen Geographie und ihnen nahestehender ästhetischer und juristischer Diskurse behaupten, ist kaum greifbar. Durchgehend verwenden sie einen oszillierenden Raumbegriff. Köster wählt nicht den häufigen Zugriff, Texte mit Hilfe einer Hauptthese zu interpretieren und alles, was ihr widerspricht, als Beiwerk abzuqualifizieren. Eine Stärke seiner Arbeit besteht gerade darin, dass er Ambivalenzen und deren strategischen Wert zeigt.

Um welche Ambivalenzen geht es? Einerseits nehmen die Autoren, deren Schriften Köster untersucht, für sich in Anspruch, mit ihren Empfehlungen Politik auf eine konkrete Grundlage zu stellen. Die Forderungen, die der Boden an das Volk stelle, erscheinen in ihrer Perspektive handfester als konkurrierende soziologische Erklärungsmuster, die die Einheit einer Bevölkerung an subjektiven Faktoren festmachen. Andererseits muss, da der Raum real stumm ist und aus sich heraus keinerlei explizite Forderungen stellt, eben dieser Raum in der geopolitischen Betrachtung vergeistigt werden. Erst eine Metaphysik des Raumes erschließt in dieser Perspektive, welche Politik die zwingend richtige sei.

In anderer Hinsicht lässt sich dieser Widerspruch als einer zwischen Determinismus und Voluntarismus begreifen. Der Raum, so fasst Köster zusammen, konnotiere aus Sicht der Vertreter der Geopolitik "Eigengesetzlichkeit und Unverfügbarkeit". Damit meinen die Raumtheoretiker jedoch nicht, dass das deutsche Volk sich bequem zurücklehnen und zusehen könne, wie der Raum es schon richte. Schon früh verknüpfen sie den Raumgedanken mit organizistischer Metaphorik, die auch Wachstum und Lebensraumkampf beinhaltet und damit auf die zeitgenössische Ideologie des Sozialdarwinismus verweist. Die passive Haltung - das Schicksal des Raumes zu erleiden - verwandelt sich also gerade für den, der das vorgeblich Notwendige erkennt, in die aktivistische Haltung, eben dieses Schicksal zu verwirklichen.

Damit ist ein weiterer diskursiver Vorteil erlangt: die Verbindung von Statik und Dynamik. Statisch ist der angeblich unveränderliche Raum; dynamisch sind die Handlungen derjenigen, die seine Forderungen in Politik umsetzen. Besonders eindringlich zeigt Köster diese Haltung am Beispiel eines Autors, der nicht unmittelbar zum Kreis der Geopolitiker gehörte, jedoch deren Ideen verarbeitete: Ernst Jünger. In seinem berüchtigten Essay "Der Arbeiter" (1932) überspitzt Jünger die Forderung nach einem dynamischen Gebrauch auch der technischen Mittel, der schließlich nach einer konflikthaften Übergangsphase einen neuen Zustand der Statik herbeiführen solle; in der literarisch-ästhetischen Vorwegnahme dieses Zustands ist, wie häufig bei der Geopolitik verpflichteten Autoren, ein Ineinander von organizistischer und mechanischer Metaphorik zu konstatieren, damit auch eine Argumentation, die archaisierende wie auch modernistische Muster integriert.

Köster interpretiert den geopolitischen Raumdiskurs auf drei Ebenen. Erstens unterzieht er zentrale Ansätze der politischen Geographen und ihnen nahestehender Intellektueller einer textnahen Lektüre, die den strategischen Einsatz der Raummetapher herausstellt und gerade in der Widersprüchlichkeit der Geopolitik ihre Möglichkeit begründet sieht, unterschiedliche ideologische Bedürfnisse zu befriedigen. Zweitens zeichnet er die Karriere der Geopolitik als die eines wissenschaftlichen Legitimierungsmusters nach. Universitätsgeographen und Erdkundelehrer nutzten die Möglichkeit, ihr Fach als politisch nützlich und philosophisch geadelt zu präsentieren erst nach einer Phase des Zögerns; Friedrich Ratzel, der wichtigste Vordenker geopolitischer Ansätze, bewegte sich zunächst am Rande der wissenschaftlichen Diskussion. Bald aber ergriffen die Geographen die Chancen, die ihnen das neue Schema bot. Gerade in Abgrenzung von der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich formierenden Soziologie bot die Lehre von der Eigenmächtigkeit des Raumes eine Chance, die Geographie selbst als die zentrale Wissenschaft von der Geschichte menschlicher Gemeinschaften zu konstituieren.

Auf einer dritten Ebene verknüpft Köster die Karriere des wissenschaftlichen Konzepts mit historischen Ereignissen. Gemäß ihrem Selbstbild waren Geopolitiker wie Ratzel oder später Karl Haushofer Anleiter für eine wissenschaftlich begründete Politik. Real war die Wirkrichtung umgekehrt: Politiker bedienten sich ihrer Argumente, wo es ihnen eben nützlich schien. Es überrascht daher kaum, dass die Geopolitik Phasen der Hochschätzung wie auch relativer Isolation erlebte: Aktuell etwa war sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als es darum ging, den imperialen deutschen Zugriff zu rechtfertigen. Als weniger taugliches Instrument erschien sie dagegen in der Weimarer Republik, als es der Rechten darum ging, die Festlegungen des Versailler Vertrags zu revidieren. Hier überwog zwischenzeitlich eine konservativere Linie, die deutsche Ansprüche durch die Verbindung eines bestimmten Raumes mit dem deutschen Volk zu legitimieren suchte. Nach 1933 erlebte die Geopolitik eine Blütezeit. Das betrifft zum einen die nationalsozialistische Raumplanung, die zwar zuerst auf die innere Ordnung des Reiches gerichtet war, in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs jedoch einen fast unermesslichen Raum zur Verfügung zu haben schien. Das wird besonders deutlich durch Kösters prägnante Darstellung zentraler Denkmuster Carl Schmitts in der Phase erfolgreicher deutscher Expansion seit den später dreißiger Jahren. Schmitt, selbst Staatsrechtler und kein Geograph, griff geopolitische Gedankengänge auf, als er die Ideologie eines legitimerweise von Deutschland kontrollierten kontinentaleuropäischen Großraums entwarf und dabei aus Gründen politischer Opportunität seine Theorie von der ordnungsschaffenden Wirkung konkreter Staatlichkeit beiseite ließ. Bei ihm, wie zuvor bei Jünger, verselbständigt sich das mit dem Raum verknüpfte Ordnungsdenken; Ordnung wird abstrakt, bar jedes Inhalts, als Selbstzweck gesetzt.

Das lenkt auf die Frage, wie Köster die Geopolitik, die er untersucht, von politisch-geographischem Denken überhaupt absetzt. Die vor-geopolitischen Formen der Raumwahrnehmung lassen sich enger an empirische Erfahrung oder konkrete politische Kontrolle anschließen, auch wenn mit Beginn der neuzeitlichen Staatsbildung und Kartographie hier schon eine Abstraktion einsetzt. Leider erschließt sich übrigens diese Differenzierung erst der wiederholten Lektüre; als größte Schwäche des Buches ist zu nennen, dass der Leser zu viel von der Besonderheit der Geopolitik verglichen mit früheren Konzepten verstehen muss, ehe er noch die Geopolitik selbst kennengelernt hat.

Die Konzepte nach 1945 verzichten ganz auf den Raum im geopolitischen Sinne; allenfalls in der Heimatkunde, als verengter, wenn auch immer noch abstrakter Raum, wurde er im Bereich der Schule toleriert. Ansätze, den politischen Raumbegriff zu rehabilitieren, blieben randständig. Dort, wo in den letzten Jahren vom Raum die Rede ist, hat die Raumideologie argumentativ unterstützende, doch keineswegs zentrale Funktion.

Zu Recht nutzt Köster diesen Befund keineswegs als Anlass zur Entwarnung. Nach wie vor bestimmt die Politik Räume. Europa wird zunehmend abgeschottet von den umgebenden Zonen, in denen Verarmung und militärische Auseinandersetzung herrschen. Zwar bedarf auch dieses Raumkonzept der ideologischen Legitimation. Doch ersetzen heute kulturalistische Begründungen die Rede von Boden und Raum - Begründungen, die, wie Köster abschießend betont, keineswegs harmloser sein müssen.

Titelbild

Werner Köster: Die Rede über den "Raum". Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Krottenmühl 2002.
258 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3935025068

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