Das Leben als Parodie unserer Träume?

Über Stephan Thomes zweiten Roman „Fliehkräfte“

Von Madlen ReimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Madlen Reimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fliehkraft ist eine Kraft, die es so eigentlich gar nicht gibt und die nur indirekt über das Wirken von Beschleunigungskraft zu beobachten ist. Die Fliehkraft, deshalb auch Trägheitskraft genannt, wird beispielsweise sichtbar, wenn eine Kugel, die an einem Faden befestigt ist, zum Kreisen gebracht wird: Bei zunehmender Geschwindigkeit wird die Kraft, mit der die Kugel am Faden zieht, spürbar größer – das ist die Fliehkraft, die der Beschleunigung entgegenwirkt. Wenn ihr stetiges Ansteigen schließlich zum Reißen des Fadens führt, dann fliegt die Kugel nicht etwa wirklich frei, sondern bewegt sich tangential zu ihrer vorherigen Kreisbahn. Sie beschreibt also eine noch immer abhängige Bewegung.

Mit „Fliehkräfte“ liegt ein Roman vor, der ebendiese Bewegung ins Zentrum des Erzählten setzt, indem er die Geschichte von Hartmut Hainbach, Ende 50, verheiratet mit seiner Traumfrau, Philosophieprofessor in Bonn und Vater einer erwachsenen Tochter, verhandelt.

Eigentlich dachte Hainbach, dass sein Leben nach Plan verläuft, er sogar ein bisschen zu viel Glück hatte und dass er all das erreicht hat, was er sich immer gewünscht hat. Dennoch haben sich in ebendiesem scheinbar perfekten Leben Risse gebildet, deren Ortung Hainbach erst nach und nach gelingt. Auslöser der durch diese Brüchigkeiten entstehenden Sinnkrise Hainbachs ist der Auszug seiner Frau Maria aus dem gemeinsamen Haus am Bonner Stadtrand. Sie lebt jetzt in einer kleinen Wohnung in Berlin, um sich beruflich zu verwirklichen und einem bekannten Theaterregisseur zu assistieren, der einmal ihr Geliebter war. Telefon, Skype und SMS bestimmen die Wochenend-Ehe und Hainbach grübelt allein in dem einsamen Haus, ob er das Angebot eines befreundeten Verlegers annehmen, seine Professur aufgeben und nach Berlin ziehen soll.

Hartmut Hainbach, dass ist der Körper, der um ein nicht mehr vorhandenes Zentrum kreist und sich dennoch nicht wirklich von diesem lösen kann. Eine tangentiale Bewegung am wirklichen Leben vorbei – das ist es, was Hainbach zu seiner Reise quer durch Europa aufbrechen lässt, um die Fliehkraft, die ihn hemmt, zu brechen oder um zurück auf die Kreisbahn zu finden, das weiß er selbst nicht so genau.

Stephan Thomes neuer Roman erzählt von einer literarischen Ausgangskonstellation, die nicht so neu ist: Ein Ende 50-Jähriger befindet sich in einer Lebens- und Sinnkrise, aus der er durch eine Reise hinausfinden will, indem er noch einmal Entscheidungen trifft, die sein Leben in eine bestimmte Richtung lenken. Die kann richtig sein oder eben nicht. Dennoch werden hier nicht nur altbekannte Sujets verhandelt, sondern verschiedene Bedeutungsebenen beeindruckend verwoben. Dies glückt durch die raffinierte Erzählstruktur, die diesem Roman zugrunde liegt: Zum einen wird diese durch die Chronologie der Reise konstituiert, die Hainbach von Bonn nach Paris über Südfrankreich bis nach Santiago de Compostela und schließlich nach Porto führt.

Zwischengeschaltete Analepsen lassen die Vergangenheit des Protagonisten schlaglichtartig aufscheinen und betonen insbesondere die Bedeutung der Frauenfiguren, wie seiner ersten Freundin Sandrine, seiner Schwester Ruth, seiner Frau oder auch der Tochter Phillipa für sein Leben. Die Rückschauen zeichnen jedoch auch seine Universitätslaufbahn nach und zeigen, wie sich der junge Student, der einmal Sätze dachte, wie „Am späten Nachmittag verwandelt sich die Welt“, zu jenem Hartmut Hainbach heute entwickeln konnte, der desillusioniert und pessimistisch, keinen Moment mehr als besonders oder überraschend erlebt. Die individuelle Entwicklung des Einzelnen Hainbach wird durch die Einschübe aus der Vergangenheit zudem eng an das jeweilige Zeitgeschehen gebunden und dem Text gelingt es damit sowohl die Entwicklung seiner Hauptfigur zu zeigen als auch ein Teilpanorama bundesdeutscher Geschichte zu erzählen. Dieses setzt sich bis in die Gegenwart fort, indem vor allem die Orte Bonn und Berlin im ganzen Roman als gegensätzliche Lebensmodelle in Szene gesetzt werden, die Maria und Hartmut letztlich leben, indem sie ihr neues Leben in Berlin beginnt, während er dem alten in Bonn verhaftet bleibt.

Diese Rückschauen, die im Jahr 1973 beginnen und bis in die 1990er-Jahren führen, lassen die zeitliche Annäherung an Hainbachs heutiges Leben achronologisch zur räumlichen Entfernung des Reisenden von seinem Lebensmittelpunkt Bonn erscheinen. Dem Text gelingt somit die ständige Spannung zwischen Entfernung und Ankommen aufrechtzuerhalten, indem die konträren Bewegungen gegeneinander geschnitten und schließlich durch die räumliche und zeitliche Ankunft in Portugal, dem Heimatland seiner Frau, überlagert werden.

Eine weitere Bedeutungsebene konstituiert der Text durch die Struktur, die durch drei fast ekstatisch wirkende Situationen geschaffen wird, in denen Hainbach völlig die Kontrolle über sich selbst verliert und danach erstaunt, schockiert und entrückt zurückbleibt. Ob er bei einem Streit mit seiner Frau auf der Autobahn außer sich gerät vor Wut, ob er mitten in Berlin eine harmlose Amnesty-International-Aktivistin anbrüllt oder ob er auf deutsche Camper an einer Raststätte in Spanien, die seine Tochter angesprochen haben, unmäßig aggressiv reagiert, immer sind es diese Ausbrüche, die Hainbach als Figur glaubwürdig werden lassen. Denn in diesen grenzwertigen Situationen ist Hartmut Hainbach sich selbst fremd, sein Bild von sich als einigermaßen unspektakulärer und gewöhnlicher Durchschnittsintellektueller bröckelt und er ist erstaunt und schockiert über die Abgründe, die sich jedes Mal ganz unerwartet in ihm auftun.

Neben der konsequent durchgehaltenen narrativen Struktur ist die Erzählstrategie zudem wesentlich geprägt durch einen Distanz haltenden Erzähler, der seiner Figur niemals zu nah tritt und, im Gegenteil, zulässt, dass ihr anfängliches Selbstmitleid bisweilen für sie selbst, ihren Erzähler und den Leser anstrengend wirkt. Durch die stetige Distanz und die vorsichtige Annäherung des Erzählers beispielsweise während der cholerischen Ausbrüche, die kurze Eindrücke von etwas tiefer liegendem Unbekannten erahnen lassen, gelingt jedoch ein Erzählen, dass seine Figur ernst nimmt und hinter sie zurücktritt. Deshalb, und auch das ist eine Stärke des Textes von Stephan Thome, steht zum Schluss des Romans auch kein fassbares Ende, sondern „[d]ie Fliehkräfte ruhen“. Vorerst, möchte man hinzufügen.

Titelbild

Stephan Thome: Fliehkräfte. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
474 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423257

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