Der Volksbeglücker

Das aktuelle Heft der Schweizerischen Kulturzeitschrift "du" setzt Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler ein Denkmal

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"du"-Hefte sind beliebte und begehrte Sammelstücke. Auch Leser, die nicht zu den Abonnenten des rennomierten Schweizer Kulturmagazins (begründet 1941) gehören, wissen um die Schwierigkeit, dies aufrecht im Bücherregal zu platzieren. Zu den denkwürdigen Ausgaben gehören beispielsweise die Titel "Melancholie - Momente eines Zeitgefühls" (November 1988) oder "Treibstoff Alkohol - Die Dichter und die Flasche" (Dezember 1994). Mit diesen Themenheften, die jeden Auskunftsbedarf mehr als erschöpfend decken, arbeitet "du" engagiert der Kurzatmigkeit und der mitunter gehetzten Aktualitätssucht herkömmlicher Zeitgeist-Magazine entgegen. So entsteht jeden Monat ein Sonderheft wider den schnellen Verbrauch, eine umfangreiche Anthologie im Zeitschriftengewand, die auch nach Monaten und Jahren nichts von ihrem Wert eingebüßt hat.

Mit den "du"-Heften rücken Leitfiguren von Literatur, Musik, Film und Kunst ebenso in den Blick wie die lautesten und leisesten Aspekte akuter Zeitgefühle. Hefte des vergangenen Jahres waren Themen wie Angstlust, Aberglauben, Freiheit und Holz gewidmet. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Autorenportraits (1999: Elfriede Jelinek, Hans Magnus Enzensberger. Dass "du" auch vor Anzüglichem nicht zurückschreckt, beweist der frivol-doppeldeutige Titel des Juli-Heftes ("Die Blondine - eine Enthüllung"). In der Tat hält die Übeschrift, was sie verspricht: Das Cover ziert ein gänzlich ungewandetes Gattungsexemplar. Aufgegriffen werden in "du" darüber hinaus Architektur, Länder, Landschaften und Völker, aber auch traditionelle Themen der Kunst. Wenn sich "du" auf ein Thema einläßt, lustvoll und stark bildbetont, aber auch mit Nachdruck auf Autoren und unverwechselbaren Texten, macht dies die Chronik der laufenden Ereignisse keineswegs vergessen. Im Gegenteil: Ein umfangreicher Kulturkalender verleiht jeder "du"-Ausgabe die nötige Bodenhaftung.

Das aktuelle Heft beschäftigt sich mit der Person Gottlieb Duttweilers (geboren 1888), dem Gründer und Patron der wichtigen Schweizerischen Großmarktkette Migros. Einem Geschäftsmann, dem die Schweizer laut NZZ nicht nur der Aufbau eines erfolgreichen Unternehmens in der Verteilerbranche zu verdanken haben, sondern die "Anreicherung und Überhöhung des Geschäftes mit einer spezifischen Lebensphilosophie, die auf der fortgesetzten Kombination und Identifikation geschäftlicher Aktionen mit gemütbewegenden Beglückungsangeboten" basiert.

Ein Volksbeglücker war Duttweiler fürwahr. Mit 38 Jahren wirtschaftlich am Ende, schickte er mit zusammengepumptem Kapital seine legendären Verkaufslastwagen auf Zürichs Straßen. Nach mehreren Rückschlägen zahlte sich seine Bereitschaft zum Misserfolg aus. Auch später schreckte Duttweiler nicht vor waghalsigen Experimenten zurück. Die kühlen Schweizer Seen, glaubte er bei Kriegsbeginn, seien günstige und vor Bombadierung sichere Vorratskammern. Auf seine Initiative hin wurde im Juli 1939 ein Getreidetank im Thuner See versenkt. So viel Fürsorglichkeit muß sich tief ins kollektive Bewußtsein gegraben haben. Noch heute läuft jede zweite Schweizerin in Migros-Strümpfen. Nicht weniger als 78.000 Angestellte sorgen dafür, dass in Schweizer Haushalten jeder zweite Kaffee aus Migros-Bohnen zubereitet wird. Und wenn der Umsatz seit einigen Jahren stagniert, heißt es im einschlägigen Text Armin Müllers, dann sind diese Wachstumsgrenzen allenfalls 'natürlicher' Art. "Die Menschen spüren sehr wohl", schreibt Müller, "dass Duttweilers Reichtum ein ganz anderer war als der eines [...] Dagobert Duck. Weil Duttweiler daraus nicht einfach noch mehr Geld gemacht, sondern etwas damit angefangen hat: Er kämpfte für die Kleinen, für tiefere Lebenshaltungskosten, gegen Ungerechtigkeiten, gegen Kartelle und etablierte Strukturen." Die Tugenden des wohl größten aller Schweizer Wohltäter: Kampfgeist, Einfallsreichtum und Mut.

Trotz dieser Lobgesänge versäumt "du" nicht, dem Leser auch die andere, die unangenehme Seite des Konzernleiters näherzubringen. Dass der Migros-Chef die unrühmlichen Eingenschaften eines wirtschaftspolitischen Hasadeurs mit ekzessivem Geschäftsgebaren, eines "sackgroben" Diktators und nervtötenden Schwätzers in sich vereinigte, gehört zum gängigen Repertoire der Verunglimpfungen, mit denen man den Firmenvorstand schon seinerzeit bedachte. Aber die Tatsache, dass Duttweiler am 8. November 1948 mit gut gezielten Steinwürfen zwei Fenster des Bundeshauses zertrümmerte, stempelte ihn endgültig zur politischen Unperson. Die Steine, befanden damals die "Basler Nachrichten", machten ihren Werfer nicht nur psychologisch, sondern "auch psychiatrisch" interessant. Duttweiler, der seine ersten Franken mit Zucker, Kaffee, Teigwaren, Reis, Kokosfett und Seife verdiente, verabscheute alles, was kompliziert war und langfristige Bindungen erforderte. Stets hielt er den Kontakt zur 'Basis'. Noch als Migros längst ein Konzern war, pflegte er in den Supermärkten rund um seinen Wohnort aufzutauchen, um die Kundschaft zu beobachten und mit den Leuten zu plaudern. Kleinlichkeit wird dem Workaholic von den "du"-Autoren dabei ebenso bescheinigt wie rücksichtsloses und brutales Verhalten.

Zu dieser Umtriebigkeit gehört auch, dass der Migros-Frontmann die Verachtung der Industriellen für die Gilde der Journalisten keineswegs teilte. In der "Zeitung in der Zeitung", die regelmäßig in mehreren Züricher Zeitungen abgedruckt wurde, schrieb der Chef selbst. Seine Artikel gleichen einem Feuerwerk von Ideen und originellen Formulierungen, in denen sich Poetisches mit Hausbackenem und Volkstümlichem, Spitzfindiges sich mit volkstümlich Derbem überlagert. Unstillbare Angriffslust findet sich gepaart mit "entwaffnender Ehrlichkeit". Alles in allem gelingt "du" ein überzeugendes und vielstimmiges Portrait eines der wichtigsten Schweizers des 20. Jahrhunderts. Neben dem charismatischen Gründungsvater und polternden Migros-Pionier werden aber auch Firma und Belegschaft nicht vernachlässigt. Zu Wort kommen Zulieferer, kleine und leitende Angestellte, Konsumenten. Spätenstens hier wird deutlich, wie sehr die Schweizer und die Migros miteinander verwachsen sind. "Wir haben [...] so etwas wie einen Migros-Lebenslauf", liest man im Editorial, "ob es uns passt oder nicht".

Für uns Hiesige ist das Außerordentliche der Migros am besten am Artikel der Berlinerin Iris Hanika nachvollziehbar, denn hier geht es vor allem um Differenzbestimmungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden: "Die Migros ist das Paradies. Wenigstens von Berlin aus gesehen. Denn in der Migros ist alles gut, was in Berlin schlecht ist, und was hier gut ist, ist in der Migros sowieso gut. In Berlin gibt es verschiedene Ketten von Billigsupermärkten. Bei denen sind die Preise ungefähr so wie bei der Migros, aber die Qualität ist so erbärmlich, dass man sie Schweizern nicht beschreiben kann, weil es in der Schweiz ja nichts anderes gibt ausser dem Qualitätsprodukt. Vielleicht ahnten die Schweizer aber, was ich meine, wenn sie wüssten, wie sich hier in Berlin die Menschen glücklich schätzen, wenn sie Beziehungen in die Schweiz haben, das heisst zur Migros. 'Beziehungen in die Schweiz' bedeutet immer 'Beziehungen zur Migros'". Angesichts der Beglückungsprodukte der Wohltäterin Migros, da ist sich die Autorin sicher, müßte jedes Erzeugnis aus deutscher Herstellung vor Neid erblassen. Mehr noch: "Wollen wir am Ende alle nichts als Schweizer sein?"

Titelbild

du.Die Zeitschrift der Kultur.
Du-Verlag TA-Media, Zürich 2000.
118 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3908515424

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