„Das Leben ist rissig geworden…“

Martin Gülichs neuer Roman „Was uns nicht gehört“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das gibt es nicht allzu oft in der deutschsprachigen Literatur: Bücher, die sich mit Menschen beschäftigen, die scheinbar keine besonderen Merkmale und Auffälligkeiten haben, die, wie man so sagt, normal sind. Es ist ja auch so, dass man von Romanen – generell von Medien und Produkten, die uns unterhalten sollen – erwartet, dass ihnen etwas besonderes eignet, dass sie gar spektakulär, außerordentlich sind, Menschen und Szenarien aufweisen, die dem Leser oder Konsumenten wenig vertraut sind, so dass die Atmosphäre des Neuen, Fremden, Ungewöhnlichen entsteht. Ganz anders „Was uns nicht gehört“, der neue Roman des in Freiburg im Breisgau lebenden Schriftstellers Martin Gülich, der sich, seine Produktions- und Veröffentlichungszyklen betreffend, wohltuend von der Gruppe der Dauerschreiber abhebt und nur alle paar Jahre mit einem vergleichsweise dünnen Buch in Erinnerung bringt. Etwas über 170 Seiten hat das neue Buch, das uns Paul Epkes vorstellt, dessen langjährige Beziehung mit Sonja zerbricht, der außerdem kurz vor der Pleite seines Arbeitgebers von demselben noch eine Abfindung erhält.

Nun ist der Ex-Buchhalter einer schlecht geführten Kartonagenfabrik also auf einmal arbeits- und beziehungslos, geht, um sich und seiner imaginierten Umgebung eine bürgerliche Struktur zu erhalten, jeden Tag zum Frühstücken in ein Café und wartet auf ein wie auch immer geartetes neues Leben. Beim Jedermann-Tischtennis (sein Vater sagte immer Ping-Pong dazu, was er, Paul, hasste) trifft er jemanden, der ihm einen Abendjob an der Garderobe einer Kleinkunstbühne vermittelt, immerhin 30 Euro pro Abend. Nach einem katastrophal verlaufenen Konzert des Akkordeonorchesters Dinkelsbühl kommt Leben in den etwas heruntergewirtschafteten Schuppen, weil an drei aufeinander folgenden Abenden die Chanteuse Marie Mercier auf dem Programm steht.

Am ersten dieser drei Abende kommen auch Sonja und ihr neuer Liebhaber, ein gut aussehender Jaguarfahrer, zum Konzert, was Paul Epkes zu der Überlegung bringt, ob dieser wohl weiß, dass sich Sonja nach wie vor mit ihm zum Sex trifft. Gedanken und Reflexionen, Epkes’ Abschweifungen und Betrachtungen durchziehen diesen ruhigen und genau gearbeiteten Roman über einen scheinbar durchschnittlichen Menschen, der vom Leben und sich selbst überrascht wird. Denn nach Maries zweiter Show trifft er sie, die in einem kleinen Campingbus von Ort zu Ort, von Auftritt zu Auftritt zieht. Und als wäre ein Schalter umgelegt worden, findet sich der Held von „Was uns nicht gehört“ auf einmal wieder in ebendiesem Campingbus, neben Marie liegend, die eigentlich Maria Merz heißt.

Doch er ist komplett angekleidet und es kommt nicht zur möglicherweise erwartbaren rock’n’roll-haften Affäre zweier Durchgeknallter. Nein, eher entsteht das Bild zweier Menschen, die umfallen könnten, würden sie sich nicht gegenseitig stützen. Und so zuckeln sie durch die Provinz, Marie/Maria tritt bevorzugt in Alten- und Pflegeheimen auf, manchmal auch in etwas zwielichtigen Etablissements, prellen mal die Zeche an einer Raststätte und sind trotzdem nicht Bonnie und Clyde, sondern eher ein etwas unangepasstes, aus dem Spießerrahmen gefallenes Camperpaar.

Leise schwingen eine sich im Wartestand befindende Erotik und eine Wie-soll-es-nur-weitergehen-Stimmung mit – zumal Epkes erfahren hat, dass seine auf monatliche Zahlungen gestreckte Abfindung nicht mehr fließt und er am Geldautomat schon nichts mehr bekommt. Trotzdem ist Martin Gülichs neuer Roman weder melancholiegetränktes Jammerbuch, noch zynische Sozialstudie, auch wenn Epkes dafür die perfekte Folie abgäbe, hat er doch außer seiner Ex- und Sexfreundin Sonja und seinem dementen Vater im Altenheim keine nennenswerten Sozialkontakte. Vielmehr gelingt dem Autor durch eine sehr feine und zeitlose Sprache, durch schlichte Sätze und den Verzicht auf Kraftausdrücke und Szenevokabular ein ernster und existenzieller Text, der durch Leichtigkeit und Genauigkeit besticht und dessen Nähe zu seinen Figuren Wärme entstehen lässt und Identifikation erlaubt. Diese Nähe und Wärme werden ganz besonders deutlich, wenn Epkes seinen Vater besucht, der den Sohn nicht mehr erkennt, der sich jedoch an einem Hund so sehr erfreuen kann, dass er diesen als seinen eigenen wiederzuerkennen glaubt. Großartig auch die Szene, als Paul Marie von seinem Vater und dessen Zustand erzählt und sie daraufhin aufbrechen, ihn zu besuchen. Als er auf die Caterina Valente-Lieder nicht reagiert, versuchen sie es mit Weihnachtsliedern, die wiederum bei Epkes zu einer Erinnerung zurück in die Familie, die Kindheit führen. Für den Schluss seines sehr beachtenswerten Buches hat sich Martin Gülich etwas Besonderes einfallen lassen, durchaus folgerichtig und weit ins Offene zeigend.

Titelbild

Martin Gülich: Was uns nicht gehört. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2012.
172 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312005383

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