Nicht richtig verwurzelt

Helmut Birkhans Kulturgeschichte der „Pflanzen im Mittelalter“ krankt an einem verengten Blickwinkel

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pflanzen waren im Alltag des mittelalterlichen Menschen sehr viel stärker präsent als bei uns heute. Man aß, was in der näheren Umgebung wuchs, und bekam die Entwicklung der Nahrung vom Keimling bis zur Ernte mit – oder wie sie durch Hagel, Trockenheit oder Ungeziefer vernichtet wurde. Die meisten Heilmittel wurden ganz oder teilweise aus Pflanzen hergestellt, man schlief auf Stroh und webte Stoff für die Kleidung aus Hanf-, Flachs- oder Leinfasern. Vielen Pflanzen schrieb man außerdem eine symbolische oder magische Bedeutung zu. So konnte man den Sellerie zum Beispiel nicht nur essen und vielfältig medizinisch verwenden, man konnte mit seiner Hilfe auch das Geschlecht eines Ungeborenen vorhersagen. Dazu legte man der Schwangeren eine Sellerieknolle auf den Kopf, was sie allerdings nicht merken durfte. Nannte sie anschließend zuerst einen Männernamen, sollte es anzeigen, dass sie einen Knaben trug, nannte sie einen Frauennamen, erwartete man ein Mädchen.

Der großen wirtschaftlichen und medizinischen Bedeutung der Pflanzen trägt Birkhan Rechnung, indem er diesen Aspekten entsprechend viel Platz in seiner Kulturgeschichte einräumt; sie nehmen etwa zwei Drittel des Buches ein. Er beginnt mit den Nutzpflanzen: Getreide, Gemüse, Obst, Faserpflanzen, Färberpflanzen und anderweitig verwendbare Pflanzen. Bei seiner Darstellung bezieht Birkhan sich vor allem auf das „Buch der Natur“ Konrads von Megenberg und die Werke Hildegards von Bingen, weil ihm diese beiden Quellen in ihrer „Reichhaltigkeit und lexikalische[n] Anlage […] eine gewisse Vollständigkeit und Übersichtlichkeit zu verbürgen“ scheinen. Für eine Kulturgeschichte mit wissenschaftlichem Anspruch eine reichlich vage Begründung und mindestens ebenso gewagte Verengung, auch wenn Birkhan seine Ausführungen gelegentlich mit anderen Beispielen – vor allem aus der mittelalterlichen Epik – anreichert. Die Berücksichtigung von Kochbüchern, Chroniken und archäologischen Befunden hätte sicher nicht geschadet.

Im Kapitel über „Pflanzen aus der Sicht ihrer magischen Verwendung“ listet Birkhan auf über 70 Seiten „einschlägige“ Pflanzen von „Ahorn“ bis „Zyklame“ auf, deren Bedeutung er „insbesondere im Sinne der magia naturalis“ zu erläutern ankündigt. Das löst er aber längst nicht immer ein. So führt er etwa unter dem Eintrag „Reiherschnabel“ aus: „dient der Heiligen vom Rupertsberg gegen jede Art von Katarrh, auch Schnupfen.“ Wo ist hier die Magie versteckt? Ist für Birkhan die mittelalterliche Medizin grundsätzlich eine magische Angelegenheit? Beim Sellerie erwähnt Birkhan verschiedene medizinische Anwendungen und immerhin auch die Unkeuschheit, gegen die der Sellerie allerdings nicht auf eine magische Weise angewandt wurde, sondern ganz im Sinne der seit der Antike vorherrschenden Humoralpathologie. Die viel magischere Anwendung zur Geschlechtsprognostik kennt Birkhan nicht. Man könnte noch eine Weile mit derartigen Beispielen fortfahren und sich außerdem mit der ein oder anderen falschen Behauptung oder verzerrenden Darstellung in den Kapiteln 2 und 3 aufhalten.

Wer sich noch nie mit der Medizingeschichte des Mittelalters beschäftigt hat, findet in diesen Kapiteln sicherlich viel Neues und Überraschendes. Wer sich in der Materie etwas auskennt, muss sich allerdings häufig wundern. Vor allem darüber, dass Birkhan sich fast ausschließlich auf Hildegard von Bingen und Konrad von Megenberg bezieht, während er andere wichtige Werke wie die volkssprachige Fassung des Macer floridus nur am Rande erwähnt oder gleich völlig übergeht, wie etwa die gesamte Tradition des Bartholomäus. Sowohl der Macer als auch der Bartholomäus in seiner vielfältigen und umfangreichen Überlieferung ist für die heilkundliche Praxis des Mittelalters, die überwiegend von nicht-studierten sogenannten Laienärzten und -ärztinnen bestritten wurde, von ungleich größerer Bedeutung als das kaum rezipierte medizinische Werk Hildegards. Zu beklagen ist nicht nur die eingeschränkte Auswahl der Quellen, sondern auch die fehlende Berücksichtigung wichtiger Forschungsliteratur wie etwa Irmgard Müllers Untersuchung über die pflanzlichen Heilmittel bei Hildegard.

Im Kapitel „Die Pflanze hat Recht – Symbol und Norm“ zeigt Birkhan auf, welche drakonischen Strafen das Recht, vor allem der Sachsenspiegel, für Verstöße gegen das Eigentumsrecht an Pflanzen vorsah. Auf nächtlichen Diebstahl gemähten Grases etwa stand der Tod am Galgen. Einen längeren Abschnitt widmet Birkhan dem Wald, der bis zum 13. Jahrhundert zu weiten Teilen noch dichter Urwald war. Er war in der mittelalterlichen Vorstellung von Ungeheuern und Wilden Menschen bewohnt, im Dickicht lauerten Wölfe, Geächtete, Räuber, Gesetzlose. In den Epen wie dem Prosa-Lancelot und dem Iwein erscheint der Wald jedoch auch als locus amoenus, als lieblicher Ort. Im Verlauf des Mittelalters wurden vor allem die Randbereiche des Waldes zunehmend wirtschaftlich genutzt, für Bauholz, Kohlenmeiler, Jagd und Beweidung etwa. Durch intensive Beweidung, der auch die jungen Knospen und Triebe zum Opfer fielen, entwickelte sich ein lichter, teilweise parkähnlicher, unterholzfreier Wald. Beweidung und fortschreitende Abholzung führte dazu, dass es zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Mitteleuropa weniger Wald gab als heute. Zu den bis heute bekanntesten Pflanzen mit rechtssymbolischer Bedeutung gehören sicher die Linde, die im Mittelalter ein Ort der Rechtsprechung war, und die Lilie, die nachweislich seit Karl dem Kahlen im 9. Jahrhundert als Herrschaftszeichen verwendet wurde. Der Reichsapfel und die heraldische Rose sind weitere Beispiele, die Birkhan in einem sehr spannenden Kapitel erläutert, das zeigt, wie vielfältig die Beziehungen von Pflanzen und Recht sind.

Die letzten 50 Seiten widmet der Autor den „Heilige[n] und fromme Pflanzen“ sowie dem „Pflanzenbild in der weltlichen Tradition des Mittelalters“. Damit nähert er sich dem Anspruch, eine Kulturgeschichte vorzulegen, zwar an, aber insgesamt wird er dem vielversprechenden Untertitel seines Buches nicht gerecht, zumal Birkhan die Fülle seiner Informationen oft nur hintereinander auflistet, statt sie zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.

Titelbild

Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte.
Böhlau Verlag, Wien 2012.
310 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783205787884

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