Denn sie wissen (nicht?), was sie tun

Hans Otto Horch und Thomas Beins Sammelband über „Wissenstransfer“ erzählt, was man im Deutschunterricht wissen muss

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wissenstransfer im Deutschunterricht“ – so lautet der Titel eines Sammelbandes, der aus einem von der Robert Bosch Stiftung finanzierten Denkwerk-Projekt mit Sitz an der RWTH Aachen entstanden ist.

Dieser Titel, der auf den ersten Blick harmlos und eher technisch klingt, entwickelt allerdings einiges an Brisanz, sobald man ihn in den Kontext aktueller didaktischer Kontroversen stellt: Wissenstransfer im Fach Deutsch? Seit seinen Anfängen ist es gerade der Deutschunterricht, der sich in seinem Selbstverständnis in erster Linie auf den Erwerb bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten oder auch auf die Vermittlung bestimmter Lebenshaltungen stützt: So sollen Schüler/innen beispielsweise nach erfolgreich absolviertem Unterricht in der Lage sein, adäquate Gedichtsinterpretationen zu verfassen und Interesse an einer aktiven Partizipation am kulturellen Zeitgeschehen entwickelt haben. All dies galt schon vor PISA – mit der anschließenden Wende hin zur Kompetenzorientierung schärfte sich das Fachprofil in dieser Richtung noch deutlich: Der früher häufig geäußerte Anspruch eines Beitrags zu Persönlichkeitsbildung und ästhetischer, teils auch ethischer Erziehung trat in den Hintergrund im Vergleich zum Training trennscharf zu überprüfender Arbeitstechniken. Die damit zusammenhängende literaturdidaktische Diskussion „Bildung vs Kompetenzen“ ist bekannt, ein tragfähiger Konsens steht aus.

Die Kategorie Wissen spielt innerhalb dieses didaktischen Minenfeldes allerdings eine deutlich untergeordnete Rolle: Implizit wird zwar meist vorausgesetzt, dass ein bestimmtes „Hintergrund-“Wissen notwendig sei, um literarische Texte und Phänomene einordnen und mit ihnen arbeiten zu können; in der Praxis wird allerdings oft weitgehend textimmanent gearbeitet. Der Erwerb von deklarativem Wissen – über Literaturgeschichte beispielsweise – wird explizit nur in wenigen Stunden thematisiert und ist selten separater Prüfungsgegenstand.

Insofern stellt der von Thomas Bein und Hans Otto Horch herausgegebene Sammelband verdienstvollerweise einen Gegenstand ins Zentrum, der von der Literaturdidaktik leicht übersehen wird. Wie im Untertitel genannt, sind als Beispiele, an denen der Wissenstransfer demonstriert werden soll, Texte deutsch-jüdischer Literatur und mittelalterlicher Fachliteratur gewählt. Die weiteren Eckdaten versprechen viel: Die Beiträge wurden – teils in direkter Co-Autorschaft – von Literaturwissenschaftler/innen und Gymnasiallehrer/innen erarbeitet. Auch ein Schülerbeitrag ist enthalten, so dass an der Entstehung des Bandes tatsächlich alle in den (Aus-)Bildungsprozess eingebundenen Instanzen beteiligt sind. Neben didaktischen und fachwissenschaftlichen Beiträgen sind auch Unterrichtsmaterialien und -berichte in den Band aufgenommen worden, wobei inhaltlich die Beiträge zur deutsch-jüdischen Literatur etwas mehr Raum einnehmen und ein breiteres Spektrum an Autoren und Werken abdecken als die zum Mittelalter, die sich fast alle auf Konrad von Megenbergs „Buch der Natu“ beziehen. Eine klare Trennung zwischen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik ist also – wenigstens auf den ersten Blick – aufgehoben.

Auf den zweiten Blick indessen erfüllen sich viele der geweckten Erwartungen nicht: So unterbleibt in den meisten Fällen die ernsthaftere Verbindung der Disziplinen, die durch das Denkwerk-Projekt erreicht werden sollte: Die Beiträge der Literaturwissenschaftler wie etwa der Horchs zu Heinrich Heines Zeitgedicht „Das neue Israelitische Hospital zu Hamburg“ beinhalten vom Schwerpunkt her „klassische“ literaturwissenschaftliche Fragestellungen; didaktisch-methodische Aspekte werden lediglich am Rande berührt. Mehrere Beiträge der Gymnasiallehrkräfte, wie etwa der von Achim Jaegers „Von Kafka zum Kochrezept“ referieren lediglich Unterrichtsaktivitäten, die sich ebenfalls im Wesentlichen in stark traditionellem Rahmen bewegen (Exkursionen, Projektarbeit, Kontakte zu jüdischen Zeitzeugen). Eine positive Ausnahme stellt lediglich Angela Mielkes Untersuchung „Mittelalterliche Literatur im Deutschunterricht in Zeiten der Kompetenzorientierung – assimilieren, integrieren, profilieren“ dar, in der anhand verschiedener aktueller Lehrwerke die gegenwärtige Situation mittelalterlicher Texte im Deutschunterricht reflektiert und die Zugangsweisen didaktisch reflektiert werden, sowie Ina Kargs didaktische Überlegung zu Konrads von Megenberg „Buch der Natur“.

Im Wesentlichen ist allerdings festzustellen, dass die im Titel des Bandes angekündigte Frage nach einem Wissenstransfer im Deutschunterricht weitgehend ausgeblendet wird und insbesondere nur sehr wenig Theoriebildung dazu erfolgt. Horch selbst erläutert, Ziel eines solchen Wissenstransfers sei es, „ein schrittweise vertiefendes Verstehen [komplexer Texte] durch Erweiterung der herangezogenen engeren und weiteren Kontexte zu induzieren und die Ergebnisse kontrolliert zu überprüfen“ und kritisiert zudem eine „Kluft“ zwischen Schule und Hochschule, die dadurch entstehe, dass die Hochschule die Inhalte festlege und in einem „Einbahn-Verfahren“ mittels Fortbildungsmaßnahmen an die Schulen kommuniziere.

Tatsächlich entwickelt sich in den meisten Beiträgen allerdings eben die hier kritisierte Dynamik: Entweder werden Wissensfelder des schulischen Arbeitskanons durch die Literaturwissenschaftler/innen ergänzt (so erfolgt beispielsweise die stärkere Akzentuierung der Zugehörigkeit bekannter Autoren wie Heine oder Franz Kafka zum deutsch-jüdischen Kulturkreis), oder es werden von literaturwissenschaftlicher Seite Inhalte neu für die Schule in Anspruch genommen (hier ist das zentrale Beispiel Konrad von Megenberg) – die schulischen Lehrkräfte bemühen sich anschließend um eine angemessene Vermittlung. Deren „wie“ wird allerdings nur in Ansätzen reflektiert und verlässt nur selten einmal die gewohnten Bahnen.

Ein Beispiel: Das von Helmtrud Gehrt vorgestellte Unterrichtsprojekt zu jüdischen Kinderschicksalen während der NS-Diktatur greift zwar einige wenige verbreitete Jugendbücher auf und wurde im Rahmen eines Förderkurses für besonders begabte Schüler/innen durchgeführt – inhaltlich handelt es sich allerdings um ein simples Buchpräsentationsprojekt mit thematischem Schwerpunkt, wie es im Deutschunterricht der Unter- und Mittelstufen inzwischen regelmäßig durchgeführt wird. Didaktische Überlegungen dazu, dass hier ein Unterrichtsangebot für besonders begabte Schüler/innen durchgeführt werden sollte, fehlen bezeichnenderweise: Erhöht wurde lediglich die Quantität der Unterrichtszeit durch die Teilnahme an dem Wahlangebot, sowie die Quantität des Unterrichtsstoffes, da Inhalte bearbeitet wurden, die durch den Lehrplan nicht verbindlich vorgesehen waren.

Trotz dieser Kritik ist allerdings für den Band im Ganzen das Fazit zu ziehen, dass hier ausgesprochen wichtige Arbeit geleistet wurde: Gerade die benannten Schwierigkeiten zeigen, dass die Kategorie des Wissenserwerbs ein höheres Maß an Aufmerksamkeit innerhalb der didaktischen Forschungsdiskussion verdient. Sie machen allerdings ebenso deutlich, wie viel auf dem Gebiet der Kooperation zwischen Schule und Hochschule im Bereich der Geisteswissenschaften zu tun bleibt und dass eine Vertiefung des hier durch das Denkwerk-Projekt angestoßenen Engagements mehr als wünschenswert ist.

Titelbild

Hans Otto Horch / Thomas Bein (Hg.): Wissenstransfer im Deutschunterricht. Deutsch-jüdische Literatur und mittelalterliche Fachliteratur als Herausforderung für ein erweitertes Textverstehen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
366 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783631604915

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