Eine Möglichkeit der Geschichte

David van Reybrouck erkundet in „Kongo“ die komplizierte Geschichte eines Landes mit literarisch-dokumentarischen Mitteln

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

David van Reybroucks „Kongo“ ist ein Buch mit einem Janusgesicht. Im deutschen Untertitel heißt es „Eine Geschichte“, was sowohl Erzählung wie auch Geschichtsschreibung bedeuten kann. Es umfasst 783 Seiten, davon entfallen 120 Seiten auf Quellenhinweise, Anmerkungen und Indices.

Die Demokratische Republik Kongo wurde am 30. Juni 1960 von Belgien in die Unabhängigkeit entlassen. Dies geschah unvorbereitet und überstürzt, so dass ein Scheitern absehbar war. Dem neuen Staat fehlte es an Fachleuten auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Chaotische Zustände waren die Folge: Miseren, Unruhen, Kriege, Massaker. Sie dauern bis heute an.

Die eigentliche Urszene dafür fand 76 Jahre früher, am 7. August 1884 statt. Der belgische König Leopold II. beugte sich mit dem Entdecker Henry M. Stanley über eine provisorische Afrika-Karte und brachte „ein paar flüchtige Bleistiftstriche an“, die sein Hoheitsgebiet umreißen sollten. Am 24. Dezember fügte er nochmals ein paar weitere Striche hinzu, um sich das bisher kaum bekannte Katanga-Gebiet anzueignen. Das Kolonialreich Kongo war geboren, als privates Besitztum des belgischen Königs. Diese an sich skurrile Schöpfung war von Beginn an ein Desaster, weil so unterschiedlichste Stämme, Sprachen und Kulturen zu einem Land zusammengewürfelt wurden, deren notdürftige Gemeinsamkeit einzig im Einzugsgebiet des Kongo und seiner Nebenflüsse bestand.

Die Willkür dieser Setzung ist bis heute das Kennzeichen der Demokratischen Republik Kongo geblieben. David van Reybrouck erzählt seine Geschichte chronologisch und akribisch nach. Er nimmt uns mit auf eine Reise, die ihm selbst – wie er später nebenbei bemerkt – zuweilen vorkommt, als würde er „noch einmal ‚Herz der Finsternis‘ lesen und in eine düstere, dunkelgrüne Welt voller dumpfer Gewalt eintauchen“. Letztere ist im Kongo bis heute allgegenwärtig. Angefangen von den arabischen Sklavenjägern über die gewaltsam eingetriebene Kautschuksteuer um 1900, den Befreiungskampf und die Ausbeutung der Bodenschätze bis hin zu neuen tribalistischen Kleinkriegen, immer waren diese Konflikte von beispielloser Grausamkeit bis hin zu Völkermord begleitet. Gewalt und Rache halten seit 150 Jahren dieses Karussell am Laufen.

1908 nahm der Staat Belgien dem überforderten König seinen Kolonialbesitz aus den Händen, ohne dass er selbst Ziele und Konzepte damit verfolgt hätte. Belgien war klein, selbst ein junger Staat, so blieb sein Einfluss im Kongo begrenzt. Einzig die wirtschaftliche Ausbeutung hatte nennenswerte Folgen. Vor allem unterließ es die Kolonialmacht, eine einheimische Administration aufzubauen, weshalb die Unabhängigkeit, die 1960 innerhalb von vier Monaten eiligst abgewickelt wurde, in ein organisatorisches Vakuum fiel. Seither sind sich Machthaber mal aus dem Westen, mal aus dem Osten des Landes gefolgt, sie wurden meist mit Hoffnungen eingesetzt und unter Verwünschungen vertrieben.

David van Reybroeck hat sich intensiv in die Geschichte Kongos eingelesen, er hat das Land viele Male bereist und unzählige Gespräche geführt, wovon diese umfangreiche Darstellung Zeugnis gibt. Zwei Entwicklungslinien arbeitet er darin heraus: einerseits die unglaubliche Vitalität und Vielfalt an traditionellen Kulturen, die willkürlich zu einem Staat zusammen gefasst wurden; andererseits das Tummelfeld für Sadisten und Rassisten, wobei dazu belgische Kolonialisten ebenso gehören wie Einheimische, die sich gegenseitig abschlachten. Der Kolonialismus erzeugte komplexe Muster der Über- und Unterordnung, die allmählich auch in die traditionellen Stammesstrukturen einsickerten und die vernunftmäßig kaum zu verstehen sind. „Ich habe keinen Überblick, niemand hat einen Überblick“, fasst es van Reybrouck zusammen.

Formal versucht er das Unmögliche, indem er zwei Perspektiven miteinander aufs Engste verknüpft. Er resümiert zum einen aus historischen Quellen die Geschichte Kongos, um sie zum anderen mit subjektiven Erinnerungen von zuvorkommenden Gewährsleuten und dubiosen Gesprächspartnern zu vertiefen. Gerade deshalb erzeugt sein Buch einen erzählerischen Sog, dem sich die Leser nicht leicht entziehen können. „Ich weiß nur, dass ich lieber mit einfachen Menschen rede als mit politischen Führern“, weist er auf diese Kraft hin. Wo immer er mit der politischen und ökonomischen Betrachtung ans Ende kommt, gibt er einem Zeitzeugen das Wort und verleiht seinem Bericht so neuen Schwung. Es sind diese Menschen, die ihm Klangfarbe und Reichtum verleihen – allem voran der mutmaßlich 1882 geborene Nkasi, den der Autor 2008 in Kinshasa traf. Der alte Mann vermochte sich an Dinge zu erinnern, die nirgends aufgeschrieben sind.

Indem er die großen historischen Linien erzählt und sie mit den Berichten von Augenzeugen differenziert, betreibt van Reybrouck eine Durchdringung der beiden Sphären. Die Geschichte im Überblick begegnet den erlebten Geschichten. Insbesondere in den Kapiteln über die letzten 20 Jahre ist diese Engführung zentral.

Van Reybroucks Buch lässt sich in ein literarisch-dokumentarisches Genre einordnen, das in jüngster Zeit durch Bücher von Per-Olov Enquists („Die Ausgelieferten“), Laurent Binet („HhhH“) oder Steve Sem-Sandberg („Die Elenden von Łódz“) repräsentiert wird. Letzterer beispielsweise rekonstruierte die historische Realität im Ghetto von Łódz, indem er die Wissenslücken über dessen Alltag mit literarischer Fiktion und erfundenen Figuren füllte. Im Unterschied dazu erfindet van Reybrouck nichts, er verknüpft lediglich subjektive Erinnerungsbilder von Zeugen mit den historischen Kenntnissen, um das zersplitterte Bild der Wirklichkeit durch die doppelte Optik von oben und von unten zu erweitern. Damit stellt er sich stärker in die journalistisch-essayistische Tradition des Polen Ryszard Kapuscinski, der als Reporter die Welt bereiste und seinen analytischen Blick an den alltäglichen Kleinigkeiten schärfte.

In der Berliner „taz“ hat Dominic Johnson van Reybroecks Buch in vielen Details kritisiert. Demnach seien diesem einige analytische Fehler unterlaufen, oder sagen wir, problematische Interpretationen, die nicht immer den aktuellen Forschungsstand wiedergeben würden, wie Johnson moniert. Ein zentrales Problem ortet er vor allem darin, dass van Reybrouck in der Ich-Form schreibt, ordnet und erzählt – „bei allzu häufigem Gebrauch der Ich-Form verstellt die Person des Autors den Blick auf das Thema“. Die „kolonialistische“ Perspektive bleibe damit erhalten. Doch was bleibt einem belgischen Autor denn anderes übrig?

Dominic Johnsons Einwände gilt es für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung im Auge zu behalten, hinsichtlich der literarischen Lektüre aber wirken sie kleinlich und unerheblich. Durch die Ich-Erzählung erhält das Buch eine subjektive Optik, die dem Umstand Rechnung trägt, dass van Reybrouck nicht das Resultat einer langen Forschungstätigkeit vorlegt. Er nahm 2003 dieses Buch in Angriff, gerade weil er so wenig über den Kongo wusste (wo notabene sein Vater einige Jahre lebte und arbeitete). Indem er den Lesern die Geschichte so geordnet wie möglich ausbreitet, gibt er nicht nur seine Erkenntnisse preis, sondern zieht die Leser mit hinein in diesen Moloch, der Kongo heißt und aus unzähligen Facetten besteht, die bisher noch kein Werk umfassend zu beschreiben und erklären vermocht hat.

Titelbild

David Van Reybrouck: Kongo. Eine Geschichte.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
780 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423073

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