Invasorisch?

Marta Kopij untersucht in ihrer Studie „über Imitation zur Kreation“, wie die deutsche Romantik nach Polen kam

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf ihrer Goodwill-Tour zu den großen deutschen Dichtern haben die in ihrem Heimatland bis heute hochgeschätzten Romantiker Adam Mickiewicz und Antoni Edward Odyniec im Jahr 1829 mal mehr, mal weniger Glück. Goethe in Weimar wirkt – wen wundert’s – steif und distanziert, Ludwig Tieck in Dresden ist wohl etwas offener, besonders enttäuschend verläuft aber der Besuch bei einem Bonner Philologie-Professor, dessen Haus die beiden Besucher „halbtot vor Langeweile“ verlassen, hatte er doch unausgesetzt von sich selbst und seinen Leistungen gesprochen.

August Wilhelm Schlegels spätestens seit Heinrich Heine fast sprichwörtlich zu nennende Eitelkeit bliebe eine Fußnote in der polnischen Literaturgeschichte, wäre dieser Autor nicht der wohl wichtigste Anreger der Romantik in Polen – und damit mittelbar auch der polnischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, die im polnischen Selbstverständnis bis heute eine ausschließlich positive Rolle spielt. Der Besuch der beiden jungen Polen bei dem verehrten Deutschen erschließt aber auch Missverhältnis und Missverständnis dieses Transfers, denn die Deutschen haben sich für die Polen weitaus weniger interessiert als umgekehrt. Der belesene Schlegel erwähnt in seinen literaturgeschichtlichen Texten die slawischen Literaturen kaum, und wenn, dann eher abschätzig.

Die Romantik ist ein Paradebeispiel für europaweiten (und darüber hinaus reichenden) Kulturtransfer. Umso bedauerlicher, dass wir über viele Rezeptionswege und Dialoge nur sehr ungefähr informiert sind. Marta Kopijs Buch schafft Abhilfe hinsichtlich der deutsch-polnischen Literaturbeziehungen wie auch der Kommunikationslücken zwischen Deutschen und Polen im 19. Jahrhundert. Insofern ist es ein über bloß literaturwissenschaftliche Fragestellungen hinaus brisantes Buch, das auf weiteren Austausch hoffen lässt, erscheint es doch als erster Band einer Reihe „Studien zum deutsch-polnischen Kulturtransfer“. Dass es in deutscher Sprache geschrieben ist, auch wenn es von polnischsprachigen Quellen zehrt, ist aus deutscher Sicht natürlich ein besonderes Verdienst. Die Verfasserin hat ihre Zitate aus polnischen, meist bisher unübersetzten Quellen durchgehend ins Deutsche übersetzt. Damit beseitigt sie einen Missstand, der schon für das 19. Jahrhundert zu beklagen ist, nämlich die fehlende oder fehlgehende Kommunikation zwischen den Vertretern der deutschen und der polnischen Kultur – dem entspricht die Beobachtung, dass die deutschen Romantiker von ihrer Anregerrolle selbst kaum Notiz nahmen, dass allein die polnischen Autoren aktiv wurden. Die Begegnung mit Schlegel mag anekdotischen Reiz haben, darüber hinaus ist sie kennzeichnend für die Arroganz der deutschen Seite.

Die beiden großen Wiener Vorlesungsreihen der Brüder Schlegel machten in besonderem Maß Epoche, also Friedrich Schlegels „Vorlesungen zur Geschichte der alten und neuen Literatur“ von 1812, mehr noch der Exportschlager der deutschsprachigen Romantik schlechthin, August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ von 1808 – beides vielleicht erstmals mit Esprit sowie mit theoretischem und zugleich literaturkritischem Anspruch vorgetragene komparatistische Literaturgeschichten. Unter August Wilhelms Zuhörern in Wien befanden sich auch polnische Adelige. Dabei ging es den Brüdern Schlegel nicht um einen nur rückwärts gewandten Blick auf die Poesie, sondern, gut romantisch, um die Anregung ihrer Zuhörer im Sinn einer Erneuerung der Poesie in der Gegenwart. Kein Wunder, dass dieses Ansinnen bei jungen Dichtern auf offene Ohren stieß.

Den Beginn der polnischen Romantik datiert man auf das Erscheinen von Mickiewicz’ Balladen und Romanzen 1822, die Konstitution einer polnischen Romantik oder auch die „romantische Revolution“ gilt als Voraussetzung des Novemberaufstandes von 1830. Damals, 1830 und 1832, wurden die bis dahin auf deutsch bekannten Vorlesungen der Schlegels ins Polnische übersetzt.

Kopij rekonstruiert vor allem die frühen Rezeptionslinien, die typische Umwege markieren, nämlich über Russland und vor allem über Frankreich, namentlich Germaine de Staels Deutschland-Buch, das wiederum von der Begegnung der Verfasserin mit August Wilhelm Schlegel besonders stark profitierte. Warum erst und ausgerechnet nach 1820 die Rezeption der kritischen und historischen Texte der deutschsprachigen Frühromantik massiv einsetzt und die vorherrschende klassizistische Auffassung zurückgedrängt werden konnte, erklärt Kopij nur bedingt – nationalkulturelle Absichten sind zu vermuten. Als mögliche Ursachen benennt die Verfasserin neben dem ästhetisch innovativen Charakter der deutschsprachigen Texte und neben der Anziehungskraft, die von de Staels Vermittlertätigkeit ausging, das interkulturelle Interesse der deutschen Romantiker selbst – auch wenn es sich mehr auf das germanische und romanische Mittelalter und die Frühe Neuzeit, dann auch auf Indien und den Orient konzentrierte als auf Osteuropa.

Die Universitätsstadt Wilna und die aufgrund ihrer Presselandschaft wichtige Stadt Warschau waren die Zentren der entstehenden polnischen Romantik, Maurycy Mochnacki und Kazimierz Brodzinski zählten zu den wichtigsten Vermittlern. Wenn auch die ästhetische Reflexivität dem eigentlichen Dichten nachgeordnet blieb, so ist in Mochnackis Denken romantisches Gemeingut (und sind zugleich Goethe-Reminiszenzen) erkennbar, in der Analogiebildung von Natur und Poesie etwa oder in einer Poetologie des Werdens. Ganz anders als in der deutschen Romantik war vor allem die Dramenproduktion von nationalliterarischer und poetologischer Bedeutung – Vorbild war neben Shakespeare der deutsche ‚Romantiker‘ Goethe mit seinem „Götz“.

Die Suche nach Erklärungen für diese dramatische Vorliebe überschreitet dann aber die zuvor nachgezeichneten Verbindungslinien zur deutschsprachigen Frühromantik erheblich. Ein Aufruf zur schöpferischen Gründung einer Nationalliteratur – schon dies ein bedeutender Unterschied zur literarischen Praxis in Deutschland – konnte mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit zu dem durch Mickiewicz begründeten Drama als romantisches Gesamtkunstwerk hinführen als zu einem elitären Zeitschriftenprojekt wie bei den Jenaer Romantikern. Die Nähe von Katholizismus und Drama bietet eine weitere schlagende Erklärung – Victor Hugos „Préface de Cromwell“ wiederum kann als ausgesprochen zeitnaher Prätext vielleicht sogar besser herhalten als August Wilhelm Schlegels Dramenvorlesungen.

Von besonderem Reiz wäre es natürlich, die deutsch-polnischen Kommunikationsströme zu Zeiten einer katholischen oder katholisierenden Spätromantik zu untersuchen. Im Zusammenhang damit stellte sich auch die Frage nach der Vermittelbarkeit von katholischer Ritualität mit romantischer Ironie, die Kopij einzuräumen scheint. Das Drama der polnischen Romantik, dessen Archetyp Mickiewicz’ „Dziady“ ist, folgt einem historischen und volkstümlichen Paradigma – diese Mode gab es in den 1820er- und 1830er-Jahren auch auf dem deutschen Theater, ohne je kanonischen Rang erlangt zu haben. Auch die damals berühmtesten Vertreter wie Ernst Benjamin Salomo Raupach sind heute vergessen. Über die Gleichzeitigkeit der angeblich verspäteten polnischen Romantik, also die Rezeption der um 1830 aktuellen Texte, wüsste man gern noch mehr.

Nicht allen Thesen wird man zustimmen wollen, so haben deutsche Romantiker – mit welcher Deutlichkeit auch immer – durchaus politische Fragen diskutiert. Diffus bleibt Kopijs Fragmentbegriff, der mal dem des „Athenäum“ angenähert zu sein scheint – mal lediglich Bruchstückhaftigkeit meint.

Ihrerseits romantisch ist die organizistische Auffassung von ‚Epochen‘, die anscheinend irgendwann einmal ‚an der Reihe‘ sind – und wenn Rezeptionsphänomene länger dauern als sie dauern könnten, dann ist schnell von ‚Verspätung‘ die Rede. Die polnische Romantik wäre dann anders als andere ‚Romantiken‘ (aber ähnlich wie die französische) recht spät an der Reihe gewesen. Diese Sichtweise läuft Gefahr, eine unvoreingenommene Würdigung der Eigenständigkeit kultureller Strömungen auszublenden, denn sie geht mit einer ganz unnötigen Selbstrechtfertigungsneigung einher. Die sozial- und mediengeschichtlichen Besonderheiten des russisch beherrschten Kongresspolen nähren die Vermutung, dass sich neue Ideen nur zögerlich durchsetzen konnten. Zugleich bietet die in den 1820er-Jahren entstehende polnische Freiheitsbewegung einen Anhaltspunkt dafür, dass man ausgerechnet die Texte der Romantiker begeistert rezipierte.

Der sehr zu begrüßende Band leidet ein wenig unter seiner Vernachlässigung durch den Verlag; dass man eine Lektorierung des Manuskripts unterlassen hat, erschwert die Lektüre. Dies ist umso bedauerlicher, als das Buch dem deutschsprachigen Leser die Eigentümlichkeit der polnischen Romantik wohl erstmals eindringlich schildert. Spannend wäre es übrigens, mehr über eventuelle Rückwirkungen auf Deutschland zu erfahren.

Titelbild

Marta Kopij: Über Imitation zur Kreation. Zur Geschichte des deutsch-polnischen romantischen Kulturtransfers.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011.
245 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783865835550

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