Der falsche Vertreter

André Pieyre de Mandiargues’ Roman „Der Rand“ nach Breton und Bataille

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

André Pieyre de Mandiargues zählte sich selbst gerne zum französischen Surrealismus, aber als Vertreter der Zweiten Generation. Von gehemmtem Temper und überaus schüchtern, ein Aristokrat calvinistischer Herkunft, außerdem anarchistisch linksrechtsradikal und Übersetzer von Yukio Mishima, war er ein eher untypischer Partizipant am Pariser Traumkomplott. Lieber saß Mandiargues am Nebentisch als zur Linken des Bretonen. Und zwar war seine Liebe zur Bildenden Kunst beträchtlich und er schrieb, durchaus orthodox, über Arcimboldo, über Max Ernst, über Leonore Fini (und, sehr schön, über die Tauchermaske), aber daneben auch über Maler wie den großen, hierzulande viel zu unbekannten Kumi Sugai mit seiner überaus suggestiven, kalligrafischen Mischung aus „stylisation“ und „simplicité“.

Tatsächlich folgt Mandiargues Werk weniger dem Surrealismus als Konzept, als dass es jene Spaltung austrägt, die in dessen Innerem haust. Das zeigt sich, wie seinerzeit in Frankreich ja nicht unüblich, in persönlichen Affinitäten an. Denn Mandiargues verehrte zwar André Breton fast kritiklos über alle Maßen, wollte aber zugleich seine Bewunderung für Georges Bataille, den dissidenten Empörer wider die Bretonischen Gerichtsbarkeiten, keineswegs verleugnen. Dessen mirakulöse erotische Miniatur „L´histoire de l’oeil“ (1928) prägte Mandiargues nach eigenem Bekunden ebenso nachhaltig, wie er Batailles zahlreiche Vorträge nach 1945 über die innere Beziehung von Erotik und Tod ´zur „einzig richtigen Perspektive“ auf die düstere Sache adelte.

So zieht sich, nicht überraschend, durch Mandiargues Erzählwerk zum einen die Spur jener Traumliteratur, die unter dem steinernen Gesicht der Metropolen die sognoresken Koinzidenzen als wahre Zeichenschrift des menschlichen Geistes zu entdecken meinte, und zum anderen eine gewisse rigide Blutspur, die jenen düsteren, gewalttätigen und niedrigen Bereichen des Eros entspringt, die Georges Bataille dem Bewusstsein zu erschließen versucht hat. Wie diese beiden opponenten Strömungen sich literarisch miteinander vermitteln lassen und mit welchem Ergebnis, das macht den Roman „La Marge“ von 1967 spezifisch aus, für den sein Autor zur allgemeinen Überraschung den Prix Goncourt zugesprochen bekam.

Tatsächlich lässt sich die doppelte Herkunft des Romans recht leicht nachzeichnen. Da ist zunächst die Stadt Barcelona, in die es Sigismond, unseren französischen Helden, verschlägt. Die Stadt hat Mandiargues nach eigenem Bekunden als Reverenz eben an Georges Bataille und an André Masson gewählt, die gemeinsam im nahegelegen katalonischen Tossa de Mar 1936 ihrer acephalischen Revolte der Kopflosigkeit, des Tumultes und des Todes Gestalt gegeben hatten: „Jenseits dessen, was ich bin, treffe ich auf ein Wesen, das mich lachen macht, weil es ohne Kopf ist, das mich mit Angst erfüllt, weil es aus Unschuld und Verbrechen besteht: es hält einen Dolch in der Linken und Flammen wie die eines heiligen Herzens in der Rechten“. Nicht weniger dürfte der Roman „Le bleu du ciel“ Pate gestanden haben, den Bataille bereits bei seinem ersten Masson-Besuch ein Jahr zuvor (samt Barcelona-Abstecher und Montserrat-Visitation) abgeschlossen hatte, spielt das erstaunliche Werk ja auch vorwiegend in Barcelona und schildert das Leben eines Menschen, so Bataille, „der sich durch Saufgelage, schlaflose Nächte und Bettgeschichten verausgabt, bis er den Tod berührt“.

Ähnliches scheint, zumindest auf Augenblicke, auch Mandiargues Held auf seinem Trip nach Spanien umzutreiben: Das verruchte Metropolen-Nachtleben lockt mit Séparée und Absteige und fragwürdiger Halbwelt. Die Gassen der Prostitution entfalten ihren Sog, im Zwielicht der Kabaretts werden die Geschlechtergrenzen unscharf und einmal, in der Boqueria, ereilt Sigismond auch der Ruf der blutigen Gewalt: Zwischen gehäuteten Lammköpfen, halbierten Ziegen und Schlachtabfällen verfällt er in „eine Erregung, die an Trunkenheit grenzt“. Es dürfte also kaum ein Zufall sein, dass in „La marge“ das unausweichliche Blau des Himmels der katalanischen Metropole immer wieder berufen wird: Der Bataille in Mandiargues ist stark.

Gleichwohl stattet der Autor dieses Bataille’sche Exterieur nun im Inneren nach den Regeln der temperierteren surrealistischen Träumer aus. Die Stadt, wie sie dem sprachunkundigen Sigismond erscheint, ist ein Terrain, dessen Triebkräfte sich nur im Zustand des intentionslosen Sich-treiben-lassens erschließen; Straßenschilder, Anzeigen, Werbungen, Zeitungsschlagzeilen, Namen von Restaurants, Cafés, Schiffen bezeichnen seinen ziellosen Weg auf der Suche nach dem amour fou. Und tragen die Hotels in Bretons „Nadja“ so sprechende Namen wie „Sphinx“ oder „Hotel des Grand Hommes“, so heißt Sigismonds barcelonesische Unterkunft nach der Teufels-Wüsten-Versuchung des Erlösers: „Tibidabo“ und liegt mitten im verrufensten Viertel der Altstadt, im Raval.

Dazu treten dann öffentliche Plätze und Gebäude, außerdem und besonders Denkmäler, Statuen, Säulen – gerade sie, die auffälligen Podestbewohner, hatte Mandiargues in einem Essay 1957 als jene Fremdkörper im Stadtbild definiert, die am ehesten den generalen surrealistischen Schlüssel-Reiz von Nähmaschine, Regenschirm, und Seziertisch auszulösen vermöchten. Hier, in „La Marge“, werden sie als erektive und herrschaftliche Monumente zu den Insignien der Macht gezählt: der Kultur, des Vaters, des Militärs und des Generalissimos Franco, den Sigismond in schöner Verschränkung der Worte „Furunkel“ und „Führer“ immer nur als „Führunkel“ beschimpft. Endlich sind da die Kaschemmen des Begehrens, die Bordelle und die Vergnügungspaläste mit ihrem Versprechen, den passiv Schweifenden in flüchtigen Begegnungen von der Macht der patriarchalen Institutionen zu entketten.

Diese beiden Strömungsbewegungen seines Romans verknüpft Mandiargues nun durch einen sehr cleveren narrativen Schachzug. Denn bald zu Beginn der Erzählung erreicht den Fremdling Sigismond ein Brief aus der Heimat, dessen letzte Sätze, die er nur fragmentarisch zur Kenntnis nimmt, den Suizid seiner Frau Sergine anzudeuten scheinen. Flugs versiegelt er die verhängnisvolle Epistel mit einem priapischen gläsernen Flaschen-Turm, der der (väterlichen, phallischen, führerischen) Columbus-Säule nachgebildet ist, und beschließt, die Unheils-Lektüre auf das Ende seiner Stadtreise zu verschieben. So wird der Trip zu einem Interregnum zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Vater und Frau, zwischen Leben und Tod, in dem die Gesetze des Realen lustvoll außer Kraft gesetzt werden sollen.

Dieses Interregnum aber ist nun weder in Bataille’scher Sacrificiums-Perspektive angelegt als restlose Auslieferung an die eigene Erniedrigung, noch im Breton’schen Horizont als traumwandlerische Spur geheimnisvoll-glückhafter Verführungen und Abwege. Mandiargues versteht die herrschaftslose Zeit seines Helden vielmehr als einen luftigen und umhüllenden, sekludierenden und leicht anästhesierenden Hohlraum, und diesen Hohlraum nennt er: die Blase. Sie, die Blase, setzt denn auch das Reale weniger außer Kraft, als dass sie es auf hypnothischer Distanz hält; sie bleibt zugleich transparent und dicht, ein Luftloch im Aquarium der Fremde. Und in ihr, in der Blase, finden die beiden opponenten (surrealen und dissidenten) Herkünfte nebeneinander Platz: als Aussetzung der Zeit, als Beurlaubung des planenden Verstandes, als Nebeneinander von Verfügung und Begehren.

Darüber aber wird das doppelte Erbe, das da aus Breton und Bataille bezogen ist, gleichmaßen transformiert. Denn Mandiargues entscheidet sich weder für noch gegen, er kreuzt die Konzepte auch nicht, er geht vielmehr einen dritten Weg: er entsubstantialiert sie. Zwar nimmt Mandiargues die Zeichen seiner großen Reverenzen auf, nur insoweit aber, als er sie zugleich entkernt. „Der Rand“ ist eine Art Robert-Walser-Roman der Erotik; hier wird nicht französisch gesprochen, sondern Schweizer Mundart; nicht zufällig stammt Sigismond, wie sein Autor ja auch, aus einer streng calvinistischen Familie. Was bei Breton und Bataille also ein seis surreales, seis häretisch-existentialistisches Konzept ist, wird im „Rand“ nurmehr zu einer Anrufung ihrer Zeichen: Zeichen des Surrealismus, Zeichen der Dissidens, Zeichen des Interregnums, Zeichen der (violenten, flüchtigen) Erotik. Die Blase ist ein Hohlraum der Signifikanten.

Das erklärt, warum sich der hinterhältige Erzähler nicht genug daran tun kann, ständig bedeutungsvolle Markierungen einzuschütten, um ihnen zugleich jede Bedeutung zu nehmen. So verliert sich über die Vielzahl all der Straßen, deren Namen mit einem „San“ beginnen (San Geronimo, San Rafael, San Ramon, San Pablo, San José, San Olegario…) und die also heiliges Geschehen anzeigen, für den Roman jeder symbolische Mehrwert; wo jeder Weg auf Märtyrer verweist, bleibt kein Martyrium übrig. Auch müssen omnipräsente amerikanische Matrosen, die alle den Namen „Altair“ am Revers tragen, derart nachhaltig den Roman durchwuseln, dass endlich alle Referenz auf die kosmische Kälte des fernen Sterns jede signifikante Spitze einbüßt. Und so exzessiv (und überfallartig gehäuft) wiederholt, transformiert, variiert und kommentiert der Erzähler das zweifellos aus Batailles „L´histoire de l’oeil“ übernommene, höchst markante Motiv von Ei / Auge, bis sich jener Eruptions- und Transformationsschock, der das kleine Wunderwerk von 1928 auszeichnete, in Luft auflöst, oder besser: in die Blase. Der schöne Schauder erlischt. „Keine Wolke zieht über den Palmen dahin, doch könnte der Himmel in zwei Hälften zerreißen, ohne Sigismond etwas Übernatürliches zu offenbaren.“

Durch dieses Verfahren gerät das Konzept der Kreuzung von Traum und Violenz zu einer höchst kunstvollen, luftigen Nichtigkeit (eine große runde Null wollte ja auch Robert Walsers „Gehülfe“ idealiter werden). Und genau darin besteht der zeitdiagnostische Wert von „La marge“. Der Roman huldigt nicht der (surrealen, dissidenten) Erotik, sondern er misst die Differenz aus, die Traum und Sacré zwischen 1930 und 1960 durchgemacht haben. Aus dem schwarzen Peter Batailles und aus dem verführten Flaneur Bretons ist ein kleiner Lustreisender geworden, der in seiner kugelrunden Hülle schnorchelt. Wo Bataille’s Troppmann aus „Le bleu du ciel“ im Pulverdunst des katalanischen Bürgerkrieges innere und äußere Eruptionen zum Sprengstoff glorioser Miserabilität zusammenbraut und wo Breton seine fluiden Erleuchtungen als amouröses Stadttextgeflecht zusammenknüpft, da bricht Mandiargues’ Held zu einem erotischen Trip auf, der mehr nach Kegelclub schmeckt als nach Kugelhagel; die Ehegattin ist als innerliche Justiz und Memorabilie ohnehin permanent präsent. So ist Sigismond nichts als ein Geselle des „Ewigen Spießers“ von Horváth (ein Spießgeselle), der ja auch nach Barcelona reist, um einmal im Leben wirklich etwas zu erleben: „Barcelona de noche“ nämlich.

Die Folge: Ununterbrochen stellt der Roman große Eruptionen und Konvulsionen in Aussicht, um sie doch ständig in eine Schleife des Wartens und Abwartens zu verzögern; eine blutleere Blase. Infam, wie Mandiargues die versprochenen Traum- und Violenzwelten konterkariert durch einen Episodenroman des Scheinlosen; Sigismond eilt von Szene zu Szene, die doch alle gleichermaßen sprachlos, geschmack- und farblos bleiben. Und hochartistisch, wie Mandiargues diese literarische Ausnüchterung mit einer erzählerischen Mischung aus Umständlichkeit und Simplizität zu einer glänzenden Rhetorik der Glanzlosigkeit ausarbeitet. Die letzten Sätze: „Er lacht schallend über sich selbst und sein Unglück, er setzt sich den kurzen Lauf der Waffe an die Brust, an der rechten Stelle, er drückt den Abzug, und eben so hat er sich das Herz versengt.“ Der Prix Goncourt war alles andere als ein Zufall.

Gibt es eine Episode, die das auf den Punkt bringt, dann Sigismonds Begegnung mit zwei Taubstummen: Was sie sich mitteilen, versteht er nicht, dass sie sich streiten, kann er nur vermuten; dass sein Vater ihn eher diese Gestensprache hätte lehren sollen als Latein, kommt ihm in den Sinn; dass sie sich versöhnen, kann er annehmen; dass sie mit einer Prostituierten ins Geschäft kommen, ist das einzige, was sich (unschwer) entschlüsseln lässt. Das ist nicht eben viel. Die Szene verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen – scheinlos eben. Solcherart sind der amour fou und die dépense, auf die Mandiargues das surrealistische und das dissidente Credo herunterkocht. Er tritt die Nachfolge seiner großen Vorgänger an, um sie zugleich zu entlauben. Nicht umsonst ist der Sigismond des Romans nur im Auftrag seines Schwagers nach Spanien gereist, um als ein Weinvertreter, der er nicht ist, dessen Geschäfte abzuwickeln, die ihn eigentlich gar nicht interessieren: Sigismond ist nichts als ein falscher Vertreter. Wie sein listiger Autor.

Titelbild

André Pieyre de Mandiargues: Der Rand.
Übersetzt aus dem Französischen von Rainer G. Schmidt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
284 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215823

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