Kein ungläubiger Thomas

Heinrich Detering entdeckt die „amerikanische Religion“ von Thomas Mann

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt noch weiße Flecken auf der Landkarte der Thomas Mann-Forschung. Frido Mann hat auf dem Mann-Kolloquium in Lübeck 2005 auf das Verhältnis seines Großvaters zur unitarischen Kirche hingewiesen. Der Göttinger Germanist Heinrich Detering ist dieser Spur systematisch und energisch nachgegangen. Seine überaus lesenswerte Studie zu Thomas Manns amerikanischer Religion erhellt die lebensfreundliche und religiös ,hochmusikalische‘ Einstellung des den USA verbundenen Schriftstellers zu einem christlich geprägten, aber inter- und transreligiösen, humanistisch-modernen Unitarismus und wirft Licht auf den Zusammenhang dieses religiösen Bekenntnisses mit seinem essayistischen und erzählerischen Werk. Die lebensweltlichen Bezüge sind in der Tat frappierend. Seine jüngste Tochter Elisabeth wurde von einem unitarischen Geistlichen getraut, Unitarier verhalfen dem Bruder Heinrich und dem Sohn Golo zur Flucht aus dem nationalsozialistisch besetzten Teil Europas, alle vier Enkelkinder wurden auf Thomas Manns Wunsch in der First Unitarian Church in Los Angeles getauft. Thomas Mann schrieb dort Beiträge für die Gemeindebriefe und sprach auf der Kanzel als Gastredner. Seit 1940 lässt sich seine persönliche Beziehung zu Unitariern nachweisen, die Arbeit an dem Roman „Joseph, der Ernährer“ ist ersichtlich davon beeinflusst.

Heinrich Detering zeichnet einen sehr „deutschen Weg“ des von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche geprägten Vernunftrepublikaners Thomas Mann zum Unitarismus nach, der seine kosmopolitische, universalistische und humanistische Lebensform begründet und bereits in der kunstreligiösen Sprache des frühen Aufsatzes „Bilse und ich“ aufdämmert; der Künstler, dessen Erleben eine „Passion“ ist, lässt sein ,heilsnotwendiges‘ Werk „aus Schmerzen“ gerechtfertigt sein. „Reinheit“ und „Opfer“ werden zu Leitbegriffen der martyrologischen Interpretation unitarischen Denkens.

Manns erste Begegnung mit unitarischem Gedankengut findet 1936 bei der zwiespältigen Lektüre von Stefan Zweigs Buch über den Humanisten Castellio statt, einen „Gründungsheiligen des reformatorischen Unitarismus“, der die anti-trinitarische Lehre von der personalen Einheit Gottes vertritt. Anlässlich der Lektüre besinne sich Mann, so Detering, auf sein Verständnis von Religion als gottgewollte Gewissenssache, als Wort der „Gottessorge“ und Ausdruck einer universellen Humanität, die eine politische Einheit der Welt prätendiert. Der Unitarismus ist insofern für Mann keine „Häresie der Formlosigkeit“ (Martin Mosebach), sondern ein geistig-politischer Rahmen, in dem Mann sein literarisches Selbstverständnis gegen die kulturzerstörenden und weltkriegerischen Tendenzen seiner Zeit absicherte. Sein protestantisches Christentum wird in dieser Denkungsart aufgehoben: „Thomas Mann wird als Christ zum Unitarier, und er bleibt als Unitarier demonstrativ Christ.“

Heinrich Deterings Buch ist vorzüglich ediert. Es enthält englischsprachige Originaldokumente Thomas Manns und des ihm verbundenen unitarischen Geistlichen Stephen H. Fritchman sowie einen aufschlussreichen Essay von Frido Mann. Eine faszinierende und weit ausstrahlende Physiognomie von Religion, Politik und Literatur im Denken Thomas Manns, ein Markstein der Forschung und eine Einladung, sich noch intensiver mit „Thomas Mann, de[m] Amerikaner“ (Hans Rudolf Vaget) zu beschäftigen.

Titelbild

Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
340 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100142047

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