„Ich glaub net amal das“

Ein von Thomas Sprecher herausgegebener Sammelband und eine Monografie Tilo Müllers befassen sich im Rahmen der „Thomas-Mann-Studien“ mit dem Verhältnis Thomas Manns zur Religion beziehungsweise zum Religiösen

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Wiener Jesuitenpater und Professor der Theologie, Laurenz Müllner, hatte einen guten Bekannten namens Jodl, einen liberalen, atheistischen Ethiker der Aufklärung. ‚Der Jodl‘, soll Müllner gesagt haben, ‚schaun‘s, der Jodl glaubt wirklich, daß es keinen Gott gibt. Ich, ich glaub net amal das.‘ Die Geschichte findet sich bei Thomas Mann, in einem Brief an Hermann Hesse. (Br III, 333) Er selbst zeigt sich sehr von ihr eingenommen. Unübertrefflich nennt er sie. Er gehe mit ihr hausieren. Eine Geschichte wie diese könne ihn Tage lang glücklich machen.“

So berichtete es Hendrik Johan Adriaanse in Band 45 der „Thomas-Mann-Studien“ („Der ungläubige Thomas“), welcher an anderer Stelle dieses Forums (von Jerker Spits) besprochen worden ist. Inzwischen ist nun auch der 44. Band der von Vittorio Klostermann verlegten Schriftenreihe erschienen. Er trägt den Titel „Zwischen Himmel und Hölle. Thomas Mann und die Religion“ und geht als Sammelband mit elf Aufsätzen zurück auf die Davoser Literaturtage 2010.

Hatte Christoph Schwöbel in jenem 45. Band einen Text über „Ironie und Religion“ publiziert, so schreibt im vorliegenden 44. Band Niklaus Peter über „Religion und Ironie“ unter besonderer Berücksichtigung des „Josephs“-Romanwerks und entfaltet die These, „dass Ironie bei Thomas Mann nicht nur eine Distanzierungstechnik ist, nicht nur eine durchgängige Verflüssigung, nicht nur ein Sichdrüberstellen und Weglächeln theologischer Ernsthaftigkeit darstellt, einer Ernsthaftigkeit, ohne die Religion selbstverständlich nicht zu denken ist“. Vielmehr sei das Ironische eine adäquate Antwort des Schriftstellers auf den Legitimitätsverlust des Religiösen in der Moderne. In den Romanen exponiere sich die Frage: „Wie reagiert man auf Glaubwürdigkeitsprobleme religiös-mythischer Traditionen – auch und gerade wenn man die Themen von Religion und Mythos dennoch für wichtig hält?“

Schon als Einundzwanzigjähriger hatte der 1875 in Lübeck Geborene und in der dortigen Marienkirche evangelisch Getaufte mit dem Gedanken gespielt, eine Novelle unter dem Titel „Piété sans la foi“ zu schreiben. „Frömmigkeit ohne Glauben“ scheint Thomas Manns Haltung in Werk und Vita von Beginn bis Ende beherrscht und auch den Empfang bei Papst Pius XII. im Jahr 1953 gefärbt zu haben. Zwei Tage nach diesem Ereignis notierte er in sein Tagebuch: „Am Mittwoch den 29. April Spezial-Audienz [sic!] bei Pius XII, rührendstes und stärkstes Erlebnis, das seltsam tief in mir fortwirkt. In den rotausgeschlagenen Vorzimmern Begegnung mit Hutchins und Mortimer Adler, die auf meinen Allein-Empfang [sic!] warten mußten. Dieser im Stehen. Die weiße Gestalt des Papstes vor mich tretend. Bewegte Kniebeugung und Dank für die Gnade. […] Kniete nicht vor einem Menschen und Politiker, sondern vor einem geistlich milden Idol, das 2 abendländische Jahrtausende vergegenwärtigt. Zur Verabschiedung Überreichung der kleinen Gedenk-Medaille. ‚Ich weiß nicht, ob ich ihnen vielleicht zur Erinnerung…‘. Darreichung der Hand. ‚Ist das der Ring des Fischers? Darf ich ihn küssen?‘ Ich tat es.“

Mehrfach hat die Forschung darauf hingewiesen, dass Thomas Mann diese Begebenheit im Vatikan post festum stark stilisiert hat, wobei ihm die Fakten nicht ganz so wichtig waren wie die Möglichkeit der überaus selbstbewussten Herausstellung eigener Größe. Er konstruierte ein Begegnungsszenario, welches dem Treffen Goethes mit Napoleon an historischer Bedeutsamkeit mindestens gleichkommen sollte – anscheinend unbekümmert darum, ob Mit- und Nachwelt die Retuschen als solche erkennen und ihn so in seiner eitlen Großmannssucht bloßstellen würden.

Im vorliegenden Band 44 plädiert indes Gunther Wenz („Thomas Manns Protestantismus“) dafür, eine Tiefendimension der Mann’schen Papstaudienz nicht zu verkennen: „Die Ästhetisierung der Audienzszene und ihre tendenzielle Ironisierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thomas Mann, der norddeutsche Lutherspross, der Luther nie recht leiden konnte, dem römischen Katholizismus nicht nur in Gestalt ihres Oberhaupts Hochachtung entgegenbrachte. Trotz der allgemeinen Reserve, mit der er wie jeder Form von konfessionellem Dogmatismus auch dem dogmatischen Katholizismus begegnete, schätzte er ihn als kultivierte Traditionsgestalt lebendiger Frömmigkeit.“ Weiter urteilt der Münchener evangelische Theologe Wenz: „Das Gefühl der Geborgenheit im Schoße der Mutter Kirche, welche der Katholizismus einem Großteil seiner Gläubigen allem Anschein nach zu vermitteln vermag, nötigte ihm echte Anerkennung, ja gelegentlich auch neidvolle Bewunderung ab.“

War aber Thomas Mann überhaupt ein „Homo religiosus“? Zeit seines Lebens bewegte ihn das Theologem der göttlichen Gnade, was vielleicht als eine biografieprägende Reminiszenz an die Formel angesehen werden kann, die der Prediger in der Lübecker Marienkirche allsonntäglich vor der Predigt sprach: „Gnade sei mit euch!“ Das Wort „gnädig“ stellte der Autor in den Schlusssatz seines „Doktor Faustus“; und „Dank für die Gnade“ sprach er ja zu Pius XII. „Um den Komplex von Schuld, Sühne und Gnade rankt sich das ganze Alterswerk“, bemerkt Thomas Sprecher in seiner Einführung, in der er zugleich davor warnt, Mann als einen „religiösen Autor“ zu titulieren. „Es ist bei ihm wohl keine spirituelle Erfahrung zu finden“, entscheidet Sprecher, und Helmut Koopmann („Ist Gott eine Hilfskonstruktion?“) nennt die meisten Erklärungen Thomas Manns zur Religion schlichtweg „diffus“. Wenn von „Sittlichkeit“, „Ehrfurcht“ oder von „religiös fundierte[m] und getönte[m] Humanismus“ die Rede ist, dann „haben [wir] es mit großen Worten zu tun und wissen doch niemals genau, wie sie eigentlich zu verstehen sind: Das eigentümlich Indifferente solcher Bestimmungen bleibt.“ Am besten verstehe man Manns Beziehung zur Religion noch, wenn man sie im Spiegel seiner Goethe-Verehrung reflektiert.

Thomas Manns Bedürfnis nach Heiligung sei nicht abzulösen von dem nach Selbstheiligung, stellt Andreas Tönnesmann („Heiligung und Selbstheiligung bei Thomas Mann“) fest und analysiert eine Reihe von Fotografien, in denen das Arbeitszimmer des Dichters inszeniert ist wie ein Sakralraum. Eine Klimax derart gestalteter Selbstheiligung habe in den Jahren des kalifornischen Exils stattgefunden: „Thomas Manns Lebensentwurf, in den Grundzügen seit Jahrzehnten angelegt und mit aller Energie sich behauptend, nimmt in den Jahren des Exils zunehmend Elemente der Selbstheiligung in sich auf. Nicht Prätention, auch nicht der über alle Lebensumstände anhaltende Erfolg als Autor oder die Vielzahl äußerer Ehrungen geben diesem Anspruch Nahrung, sondern das Bewusstsein, zu höherem Dienst an der Allgemeinheit berufen zu sein.“

Von erfrischender Insubordinationslust ist der Aufsatz der Augsburger katholischen Theologin Gerda Riedl („Der Gottesbegriff bei Thomas Mann“). „Mit dem Gottesbegriff hat Thomas Mann nicht viel am Hut“, sagt sie, attestiert ihm gerade einmal Klippschul-Niveau in Sachen theologischer Elementarbegriffe und führt die einschlägigen Kenntnislücken auf gravierende Lern- und Sozialisationsdefizite zurück. Wir zitieren eine knackige Passage Riedls ausführlich: „Wenn, wie Paulus in seinem Römerbrief (10,14) schreibt, der Glaube vom Hören kommt, dann besaß Thomas Mann nicht eben die besten Voraussetzungen, sich einen einigermaßen adäquaten Begriff vom christlichen Gott zu bilden. […] Mag sein, dass er – ähnlich wie Hanno Buddenbrook Oberlehrer Ballerstedts Religionsunterricht – den diesbezüglichen Schulstunden träumerisch zu entgehen wusste. Jedenfalls stand es erstens in religiöser Hinsicht schlecht um die familiäre Sozialisation des jungen Thomas Mann (zu Hause herrschte der damals übliche Kulturprotestantismus, der das christliche Glaubens- und Hoffnungspotential auf ein hoffnungslos moralisierendes und ökonomisierendes Niveau herunterzubrechen wusste) und zweitens schlecht um den Religionsunterricht am Lübecker Katharineum (Kirchenlieder-Unterricht zu rein liturgischen Zwecken, Lektüre des ‚Spruchbüchleins‘, i.e. Florilegium von Bibelworten, gelegentliche Lektüre von Luthers Katechismus und – noch seltener – Lektüre so genannter biblischer ‚Historien‘ am Bibeltext).“

Doch auch als Erwachsenem gelang es Thomas Mann, so Gerda Riedl, nicht, sich auf die Höhe des theologischen Diskurses zu bringen, sondern er ließ sich einfach „vom Gottesbild der inner- und außerchristlichen Religionskritik des 19. Jahrhunderts leiten“. Am Ende referiert Riedl eine Anekdote, die auch heute noch „in Kreisen der Thomas-Mann-Gemeinde“ kursiere: Der liebe Gott erscheint vor einer Gesellschaft exilierter Schriftsteller und verkündet einen Urteilsspruch: „Bester Autor Bert Brecht, zweitbester Autor Heinrich Mann, drittbester Thomas Mann! Ein versonnener Thomas Mann schrickt bei der Nennung seines Namens auf und wirft in die Runde: ‚Das soll ich gesagt haben…?‘„

Zweifellos von großem Ernst und großem Gewicht ist der von Alois M. Haas verfasste Beitrag. Haas schreibt über „Jenseits und Unterwelt“ mit speziellem Hinblick auf die „Höllenfahrt“, den den „Josephs“-Romanen vorgeschalteten Essay. Die einleitende Wendung „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“ weise hin auf die „Brunnentiefe menschheitlicher Überlieferungen“, auf den unauslotbaren Grund des kollektiven Gedächtnisses. Der Abstieg in dieses jenseitige Unten – man denke auch an den „Descensus Christi“ – führt den Menschen („Homo viator“) auf seiner Daseinswanderung jenem Pol seiner Existenz zu, dessen Gegenpol das geistig Hohe ist. So heißt es in „Joseph, der Ernährer“: „[D]as musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.“

Eine Gedankenfigur, die Thomas Manns Œuvre durchfärbt, ist die des Widerspiels von chthonisch-mütterlichen und geistig-väterlichen Kräften. Wie es in der „Höllenfahrt“ heißt, gilt die Erlösungserwartung (in Anlehnung an „Genesis“ 49,25) der „wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt“. In Anbetracht dessen trifft der Buchtitel des besprochenen Bandes „Zwischen Himmel und Hölle“ die für Thomas Mann sehr wichtige Polarität von Oben und Unten ausgezeichnet. Hermann Kurzke („Religion im ‚Zauberberg‘“) macht im oben angesprochenen 45. Band („Der ungläubige Thomas“) auf das gehäufte Vorkommen „vertikaler Metaphern“ aufmerksam, welche die „Einschnitte der Kontingenz in die horizontale Gewöhnlichkeit anzeigen“ und denen die Religion mit ihren Sinnstiftungstechniken antwortet.

Nun differenziert Tilo Müller in seiner von Kurzke betreuten Dissertation zwischen den Begriffen der Religion, der Religiosität und des Religiösen, wobei der Rezensent einzugestehen hat, dass er den Sinn dieser Unterscheidung nur ungefähr begreift. Jedenfalls wendet sich Müller, wie der Untertitel seines Buches besagt, bewusst dem Religiösen bei Thomas Mann zu, und zwar in dessen essayistischem Werk bis 1918, also einschließlich der „Betrachtungen eines Unpolitischen“.

Elemente des Religiösen in dem von Müller untersuchten Textkorpus stehen im geistesgeschichtlichen Kontext des seinerzeit auf seinem Höhepunkt befindlichen Säkularisierungsprozesses; das heißt indes nicht, dass sie radikal entsakralisiert wären, dass also „religiöses“ Sprechen völlig unmöglich gewesen wäre. Wohl aber war eine solche Rede in der Moderne um 1900 nicht mehr per se einem bestimmten, kodifizierten Religionssystem zuzurechnen. Trotz aller damaliger Säkularisierungstendenzen: „Religion“ und – genauer im Verständnis Müllers – „das Religiöse“ bezeichnen „ein Verhältnis zu einer Ueberlegenheit [Orthografie und Hervorhebung im Original], die persönlich oder unpersönlich, geistig oder stofflich, sittlich oder rein dynamisch gefaßt werden kann, die aber in jedem dieser Fälle schlechthin überlegen ist“ (Müllers „Definition 1“).

In diesem vom niederländischen Theologen Gerardus van der Leeuw entlehnten und Friedrich Schleiermacher (Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“) modifizierenden Verständnis kommt dann auch beispielsweise der um 1900 florierenden „Kategorie ‚Leben‘“ ein religiöser Charakter zu. Auch sie nämlich positioniert das Individuum in ein „dualistisches“ Verhältnis zu einer „geistig-dynamische[n] Überlegenheit“. Untersuchungsleitend ist demgemäß Müllers „Definition 3“: „Das Religiöse umfasst […] die Gesamtheit aller Elemente, die in den in Definition 1 festgelegten Modi auf ein Verhältnis zu einer Überlegenheit Bezug nehmen und dabei einem kulturellen Wandlungsprozess […] unterworfen sein können.“

Als einen sehr frühen Schlüsseltext analysiert der Autor Manns Essay „Das Ewig-Weibliche“ und erkennt auch in der mit der Überschrift gemeinten Goethe’schen Entität einen Gegenstand „der religiösen Verehrungshaltung“. Der gewichtigste, sicherlich jedoch prominenteste in Müllers Arbeit behandelte Text sind die „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Und immer wieder begegnen wir Thomas Manns wechselvoller Intensivbeziehung zu Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. In diesem Spannungsfeld konstituiert sich das „religiöse“ Denkzentrum Manns, wobei es durchwegs um solche gravierenden Dinge geht wie Kunst, Geist und Seele, um die Beurteilung der Romantik; politisch um Konservatismus versus Republikanismus und im theoretischen wie existentiellen Sinne um nicht weniger als um Leben und Tod. Im „Zauberberg“ fand Mann schließlich zu jenem – von ihm selbst so bezeichneten – „Ergebnissatz“: „Der Mensch soll um der Liebe und Güte willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“

Wenn man nach beendetem Kurzdurchgang durch die gesichteten Texte über das Verhältnis Thomas Manns zur Religion einen Gesamteindruck formulieren wollte, so würde man wohl nicht völlig fehlgehen, wenn man feststellte, dass der Schriftsteller von Anfang bis Ende Religiöses zu Papier gebracht hat und dabei eigentlich ein nichtreligiöser Mann geblieben ist. Doch um ganz ehrlich zu sein: Ich glaub net amal das.

Titelbild

Tilo Müller: Frömmigkeit ohne Glauben. Das Religiöse in den Essays Thomas Manns (1893 – 1918).
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt, M. 2010.
304 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783465036784

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas Sprecher (Hg.): Zwischen Himmel und Hölle. Thomas Mann und die Religion. Die Davoser Literaturtage 2010.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 2012.
250 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783465037279

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch