Der Vater und das Meer

Literaturtörn zwischen Wahn und Wellen: Toine Heijmans‘ Debütroman „Irrfahrt“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann allein mit seiner siebenjährigen Tochter auf einem Segeltörn auf der Nordsee. Der Morgen naht, das Kind schläft mit seinem Kuscheltier in der Koje. Der Zielhafen in den Niederlanden, wo die Frau schon wartet, ist nur noch wenige Stunden entfernt, aber gerade jetzt zieht ein Unwetter herauf. Soll man weiterfahren und riskieren, auf eine Sandbank zu treiben? Oder besser hier vor der Insel Terschelling vor Anker gehen und den Sturm abwarten?

Wer ein Mann ist und Vater und Skipper noch dazu, hat Entscheidungen zu treffen. Niemand weiß das besser als Donald, der Icherzähler in Toine Heijmans‘ kammerspielartigem Kurzroman „Irrfahrt“. Schon dass ihn seine Tochter Maria auf der letzten Etappe seiner Fahrt begleiten darf, den Bedenken seiner Frau Hagar zum Trotz, war eine Entscheidung, seine Entscheidung: „Und wenn man Entscheidungen trifft, muss man sie auch umsetzen. Es war eine gute Entscheidung. Ein fantastischer Törn über eine fantastische Nordsee.“

Na also, hat da noch wer Zweifel? Und weil Donald ein verantwortungsbewusster Vater ist, geht er vor Terschelling vor Anker. Und schaut erst mal unter Deck nach dem Rechten. Gedanklich ist er längst daheim – wirklich zurück will er zwar nicht,  viel lieber würde er einfach immer weiter über die Weltmeere schippern. Aber er weiß natürlich, dass er Verpflichtungen hat, familiäre wie berufliche. Also versüßt sich der stolze Kapitän und Vater das Unvermeidliche, indem er sich das Triumphgefühl bei der Einfahrt vorstellt und das bewundernde Gesicht seiner Frau.

„Das Boot bewegt sich, wälzt sich von links nach rechts. Ich will Maria nur kurz berühren, um sie zu beruhigen. In der dunklen Koje taste ich mit der rechten Hand unter die Decke, finde aber nichts. Das ist sonderbar. Kurz muss ich mich abstützen, weil das Boot so schwankt. Ich mähe mit dem Arm unter der Decke hindurch, ziehe die Decke aus der Koje heraus, klettere auf die Matratze. Nichts. Sie ist nicht da. Maria ist verschwunden und ihr Eisbär auch.“

Dahin ist alle Selbstsicherheit dieses Freizeit-Skippers, von jetzt auf gleich geraten die Dinge außer Kontrolle. Was nun? Ob es wirklich situationsangemessen ist, sich gerade jetzt zu vergewissern, wie man überhaupt in diese Lage gekommen ist, sei dahingestellt. Immerhin erfährt der solcherart auf die Folter gespannte Leser die Vorgeschichte, in mehreren, verschachtelten Rückblenden: von dem Angebot, eine berufliche Auszeit vom frustrierenden Angestelltenjob zu nehmen, in dem sich Donald längst auf dem Abstellgleis fühlt, und von seinem Lebenstraum: einer mehrmonatigen Solotour mit seiner kleinen Segeljacht „Ismael“. Vom Abschied von Hagar, die hofft, ihr immer unzufriedenerer Mann würde von seiner Fahrt verwandelt zurückkommen. Von den drei Monaten allein auf Nordsee und Atlantik. Und vom glücklichen Wiedersehen mit seiner Tochter in Dänemark, die ihn nun das letzte kleine Stück der Fahrt begleiten darf, von Thyborøn nach Harlingen – 48 Stunden nur Vater und Tochter, wie Donald stolz jedem unterwegs erzählt, sei es im Hafen oder am Funkgerät.

48 fantastische Stunden mit einer für ihr Alter erstaunlich seetüchtigen Tochter, muss man sagen. Schon als Baby wurde Maria zum Segeln mitgenommen; nun lenkt sie das Boot aus dem Hafen und springt später bei herrlichstem Wetter von Bord, um mit dem Vater im Meer zu schwimmen. Früh stellt sich der Verdacht ein, dass dieser Icherzähler zu jenen gehört, die als „unzuverlässig“ bezeichnet werden: Zu offensichtlich ist der Gegensatz zwischen Donalds zur Schau gestellter Selbstsicherheit und den realen Umständen. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen Einbildung und Realität? War Hagar wirklich einverstanden, dass ihr Mann Maria mitnimmt? Wie ist es wirklich um Donalds Segelfähigkeiten bestellt? Warum drückt er nach Marias Verschwinden nicht die Man-over-Board-Notruftaste?

„Kinder unterscheiden weniger klar zwischen Traum und Wirklichkeit. Es wäre gut, wenn Erwachsene das auch öfter mal so hielten. Die Wirklichkeit ist manchmal ein Traum, würde ich sagen. Und umgekehrt.“ In den Niederlanden war „Irrfahrt“ ein Überraschungserfolg, und auch hierzulande dürfte das Publikum sein Vergnügen an Toine Heijmans‘ verstörendem Debüt haben, das von einem Mann handelt, der seiner Tochter zeigen wollte, „dass man keine Marionette zu sein braucht, wenn man nicht will“, und dabei nur ein Opfer seiner Kontrollillusion wird. Mit dem von Jenna Arts eindrucksvoll illustrierten Roman ist dem 1969 geborenen Amsterdamer Journalisten ein raffiniert geschriebener Literaturtörn zwischen Wahn und Wellen geglückt.

Titelbild

Toine Heijmans: Irrfahrt. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Ilja Braun.
Arche Verlag, Zürich 2012.
186 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783716026755

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch