Und täglich grüßt der Physiker

Michael Wallner verleiht der deutschen Literatur Flügel

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zeitreisen sind in. Im Kino erfreuen sie sich seit Jahren großer Beliebtheit. Gregory Hoblits "Frequency" ist gerade in Deutschland angelaufen: Gescheiterter Mann reist in die Vergangenheit und verhindert den Tod des Vaters. Alles wird gut, wenn nur die Familie zusammenhält. Jenseits von Hollywood geht es meist eine Nummer kleiner zu: Erinnerungen, Träume und Utopien sind die Zeitreisen der Literatur.

"Wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte", grübelte bereits vor hundert Jahren der Familienvater Werschinin in Tschechows "Drei Schwestern", "und zwar bei voller Erkenntnis?" Das melancholische Beschwören eines Neuanfangs reflektiert, nicht anders als die große Abenteuerreise in die Vergangenheit, das Dilemma einer jeden Biografie: Ständig müssen wir uns entscheiden, auswählen - und verspielen dabei eine Vielzahl an Optionen. Das mögliche Leben erscheint im Rückblick auf das gelebte oft schmerzhaft schön: überall will ich sein, wo ich nicht war.

Michael Wallner ist ein Theater-Mann. Er war Schauspieler am Burg- und Schillertheater, danach als Opern- und Schauspielregisseur tätig. Sein Debütroman "Manhattan fliegt", erst im Juli bei Reclam Leipzig erschienen, war eine schrille Überraschung. Die Rätselhaftigkeit der Zeit ist ein Lieblingsthema des 1958 geborenen Österreichers. Führte sie im New York-Buch zu phantastisch-komischen Verwicklungen, so überzeugt der neue Roman "Cliehms Begabung" mit einem augenzwinkerndem Existentialismus.

Der Physiker Anton Cliehm steht auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn. Seine Arbeit über die Verknüpfung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik ist eine Sensation, zudem ist er glücklich mit der attraktiven Operettensängerin Tilly verheiratet. Doch kurz vor der Veröffentlichung stößt Cliehm auf einen Fehler in seiner Theorie. Verzweifelt versucht er sich fernab der Heimat in Portugal das Leben zu nehmen, wendet aber im Angesicht des Todes das Schicksal unter großen Schmerzen ab. Wiedergeboren entdeckt Cliehm seine besondere Begabung: er kann in die Vergangenheit und Zukunft reisen.

In der US-Komödie "Und täglich grüßt das Murmeltier" durchlebt Bill Murray, ein unglücklicher Zyniker, immer wieder den gleichen Tag, bis ihn soziale Verantwortung und Liebe aus der Zeitschleife erlösen. Cliehm kann im zeitlichen Rahmen eines halben Jahres, darin selbstbestimmter als der Filmheld, nach Belieben in gewünschte Situationen springen und diese neu gestalten: das Leben als Versuchsanordnung. Der spielerische Charakter weicht bald einem tödlichen Ernst.

Michael Wallner liebt das Kino, doch er hat auch Max Frisch studiert: In dessen Theaterstück "Biografie: Ein Spiel" hat der Verhaltensforscher Kürmann die Gelegenheit, an entscheidenden Punkten sein Leben zu korrigieren, verspielt aber diese Chance. Wallners Held begrüßt emphatisch seine neugewonnene Unabhängigkeit, um im nächsten Moment in Agonie zu verfallen: "Wir sind jung, wir arbeiten voll Hoffnung, wir scheitern und werden alt. Das ist die Bilanz, egal wie oft wir die Gegenwart wechseln."

Aufbruch und Ohnmacht, Freiheit und Desillusion - Michael Wallner ist ein Meister der Irritation. Seine Sprache ist gewöhnungsbedürftig, lakonisch-knapp steht sie im Kontrast zu der komplexen Zeit- und Handlungsstruktur des Textes: "Es ist doch nicht November, sagt der April." Nichts ist, wie es scheint, doch geht der Roman über die postmoderne Selbstverliebtheit in die eigene Raffinesse hinaus.

Der alternde Wissenschaftler verliebt sich in ein junges Mädchen, sein rationales Weltbild gerät ins Wanken und damit der gesamte Lebenslauf aus der Bahn: Anton Cliehm ist ein moderner Homo Faber. Wallner verspottet die Wissenschaftshörigkeit unserer Zeit, zeigt sich aber fasziniert von den Möglichkeiten des technischen Fortschritts. Seine Figuren bewegen sich in dieser programmierten Welt wie Kleinstädter in der Metropole, sie staunen und sind verunsichert. Wenn er den Physiker im Zeitsprung auf sich selbst treffen lässt, stellt er Fragen nach dem Grund unserer Identität und ist gleichzeitig umwerfend komisch.

"Cliehms Begabung" ist eine Liebeserklärung an das Schreiben. Sprünge in die eigene Vergangenheit, Blicke in die Zukunft, der Gestus des Was-wäre-wenn: Wallner liefert in seinem Roman auch eine Poetologie des Erzählens. "Als Gedanke könnte ich überall sein. In der Welt, draußen im Kosmos oder im Inneren der Dinge." Es gibt Hinweise im Text, dass sich die gesamte Handlung vielleicht nur im Kopf des Forschers abspielt, sicher ist man sich nicht. Am Ende sind die ständigen Zeitsprünge etwas ermüdend, für den Helden und für den Leser: Freiheit hat ihren Preis.

"Cliehms Begabung" ist ein ernstes und amüsantes Buch. Nachdenken macht wieder Spaß. Reale Reisen in der Zeit wird es niemals geben, lautet ein plausibles Argument, sonst hätten wir längst jede Menge Besuch aus der Zukunft. Ein Grund mehr, Michael Wallner zu lesen.

Titelbild

Michael Wallner: Cliehms Begabung.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2000.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3627000765

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