Erzählzauber und Opfergrauen

Über Patrick Roths „SUNRISE. Das Buch Joseph“

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Patrick Roth hat als Erzähler „zwischen Bibel und Hollywood“ eine besondere Stellung in der Literatur der Gegenwart. Seine Texte spielen die höchst eigenwillige Verbindung von Kino, Traum und Mythos durch, sei es, dass er auf höchst raffinierte Weise biblische Erzählungen nach- und umerzählte wie in „Riverside“ oder „Corpus Christi“, dass er die Auferweckung der Toten in das gegenwärtige Amerika transponierte wie in „Jonny Shines“, oder dass er von Erlebnissen und Begegnungen in Los Angeles erzählte wie in „Starlite Terrace“, von einem Alltag, der auch der Tag unser Träume und medialen Wunschbilder ist. Immer verbanden sich filmische Mittel und Themen mit religiösen Motiven zu einer Art profanen Erleuchtung, immer ging es um die Erscheinung von etwas im Text: um eine Präsenz, von der die Auferstehung oder die „Orpheus-Sekunde“ des Wiedererkennens nur die deutlichsten Figuren sind. Man hat daher treffend von einer „revelatorischen Ästhetik“ oder auch vom „epiphanischen Erzählen“ gesprochen, die bei Kritik wie Leserschaft großen Anklang gefunden hat.

Erzählen und Erfahrung

Auf den ersten Blick folgt auch Roths neues Buch „SUNRISE. Das Buch Joseph“ einer solchen Ästhetik, besonders der Schluss lädt zu einer solchen Lektüre ein. Wie in anderen Büchern gibt es auch hier eine verschachtelte Erzählkonstruktion: die Geschichte des biblischen Joseph, des Vaters Jesu, wird von der Magd Neith zwei Jüngern Jesu erzählt, die unterwegs zum Grab ihres Meisters sind. Neith wird sie schließlich warnen, nicht nach äußerlichen Beweisen zu suchen: „Flieht die Bestätiger! Meidet die Menge derer, die Bestätigung wollen! Laß euch den, diesen einzigen Ort, von niemandem je bestätigen! Denn er ist Euer Ziel Laßt euch also von mir nichts bestätigen! Sondern prüft in euch selbst, ob wahr ist, wovon ich rede. So findet ihr hin.“ In diesem Sinne antwortet Neith allen Nachfragen der Jünger nur mit neuen Erzählungen und immer unwahrscheinlichen Enthüllungen: Sie selbst, Neith, sei Teil der Geschichte, die sie erzählt, eine Zeugin, eine Figur, schließlich sogar die Tochter Josephs und damit die Schwester Jesu. So knüpfen sich schließlich, am Ende des Textes, nicht nur alle Fäden zusammen, es wird auch die Macht des Erzählens beschworen, das jene innere Erfahrung jenseits aller Beweise stiftet. Am Schluss des Textes versammeln sich alle: die Zuhörer, die beiden vorher zweifelnden Jünger, Neith und ihr Sohn, Joseph und alle Vätern Israels sitzen am Tisch, in pfingstlicher Erwartung des Auferstandenen. Jedoch darf man sich von dieser gewissermaßen offiziellen Feier des Erzählens nicht täuschen lassen. Schon die wiederholten Enthüllungen strapazieren den Glauben der Zuhörer wie der Leser doch arg und es ist nicht ohne Komik, wie Neith eine Maske nach der anderen abzieht (oder aufsetzt?). Vor allem kann der versöhnliche Schluss nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Text vorher ganz anderen Prinzipien gefolgt war und dass es ja auch immer riskant ist, einen Text nur von seinem Ende her zu lesen. Denn vor diesem Schluss ist viel passiert, und was und wie das geschieht, ist einigermaßen irritierend.

Biblisches Erzählen

Irritierend ist bereits der schiere Umfang der Geschichte. Vergleich mit den kurzen, novellenhaften Texten Roths hat dieses Buch von fast fünfhundert Seiten andere Dimensionen. Es konzentriert sich nicht mehr auf den einen Augenblick, sondern geht in die Breite, oder wenn man so will, in die Tiefe der Geschichte. Die ist höchst kompliziert. Erzählt wird wie Joseph als junger Mann bereits einen Sohn Jesus hat, dieser aber ertrinkt, wie er einen Ägypter aus einem Garten befreit und dabei einen Aufseher verletzt, wie er einen zweiten Sohn bekommt, der wieder Jesus heißt, wie er meint, diesen Sohn opfern zu müssen, dabei jenen Aufseher wieder trifft, wie er in die Gefangenschaft einer Räuberbande gerät und einen der Räuber mit Namen Jesus, tötet, wie er schließlich, als alter, blinder Mann, auf Neith trifft, die ihn im Auftrag eines anderen Josephs ein Grab aushauen lässt, welches das Grab seines Sohnes werden wird. Diese Geschichte ist lang, höchst komplex und kaum wiederzugeben; in ihren Verschlingungen löst sie sich dann auch bald von der Erzählsituation ab, so dass wir vergessen, dass wir hier eigentlich Neith hören. Irritierend ist aber auch wie erzählt wird: „SUNRISE“ spielt nicht nur mit dem biblischen Ton wie Roths ältere Texte oder übernimmt einige Wendungen wie „Und es geschah“ oder „da machte sich auf“ – das Erzählen bedient sich auf allen Ebenen biblischer Erzählverfahren. Das fängt an der Oberfläche an: Fast jeder Satz bildet einen Absatz, so dass der Erzählfluss immer wieder unterbrochen wird – ein Verfahren, das an die biblische Verseinteilung erinnert. Die Sprache ist verfremdet, voller Inversionen und Emphasen, aufgerauht, oft gekünstelt und zwingt jedenfalls zum langsamen Lesen. Der Text erzählt, lakonisch, oft enigmatisch, fast durchgehend elementarisiert und parataktisch: Er reiht Satz an Satz, Szene an Szene, Kapitel an Kapitel, ohne übergreifende Erzählerkommentare oder Überleitungen, dafür voller Sprünge und Wiederholungen: immer wieder wird das gleiche etwas anders erzählt, es gibt viele Josephs und viele Söhne, die noch dazu oft die Kleider und die Namen tauschen und denen immer wieder ähnliches geschieht. Der Text ist daher von fast bedrückender Einheitlichkeit, ohne monoton zu sein. Szenen von großartiger dramatischer Dichte und Dialoge, motivisch dichte Träume und Visionen, komplexe Intrigen, aber auch lange Abschweifungen, sogar Listen und Aufzählungen oder liturgische Bekenntnisse – all das findet sich im ‚Buch Joseph‘ wie es sich auch schon in der Bibel findet.

Es ist dann wohl auch kein Zufall, dass wir das ‚Buch Joseph‘ lesen und dass Bücher in der Geschichte eine große Rolle spielen, etwa wenn Joseph mit seinem Sohn über das verlorene und wiedergefundene Buch der Tora spricht oder das Buch Jona auslegt. Immer wieder wird deutend erzählt, indem biblische Erzählmuster wiederholt und variiert werden. Roth schreibt nicht nur über biblische Stoffe, er schreibt wie die Bibel. Es geht dem Text also keinesfalls darum, die Josephsgestalt gewissermaßen auszufabulieren und Lücken im biblischen Text zu füllen, wie das ein Großteil von Literatur über die Bibel tut. Es geht ihm aber auch nicht mehr oder nicht nur um das paradoxe Unternehmen, von der Wirklichkeit im emphatischen Sinn zu erzählen, wie es die älteren Texte taten, wenn sie die Bezeugung der Auferstehung erzählten und dabei ganz auf die Fiktion mündlichen Erzählens setzten. Wie die Bibel zu schreiben heißt jedenfalls, dieses Programm zu radikalisieren, und es heißt auch: ein Buch zu schreiben. Und das ist mehr als eine Erzählung, es enthält auch Lyrik und Drama, es folgt nicht mehr den Gesetzen des Wiedererkennens und der Verlebendigung, sondern lässt sich mehr Zeit und Raum – ein Raum, der nicht mehr in der Erzählung aufgeht.

Schreckensvisionen

Im Gedächtnis des Lesers bleiben dann wohl auch weder die labyrinthischen Linien der Handlung noch ihre Zusammenführung am Schluss, an dem sich alle Rätsel lösen. Es sind vielmehr die Szenen und Bilder, die auf eine Weise unheimlich und beunruhigend sind, die man nicht leicht vergisst. Im Zentrum solcher Beunruhigung steht der Befehl, den Joseph im Traum vernimmt: „Jesus brandopfern, schlachten den Sohn, mir auf den Berg. Hinaus Joseph tu’s!“ Joseph hört, er hadert, er zögert, er macht sich selbst zum Opfer, verstummt schließlich darüber – hier führt der Text in Abgründe. Es sind Abgründe des biblischen Textes, denn es handelt sich hier um eine Variation über die Adedah, die ‚Opferung Isaaks‘ aus der Genesis – seit Luther, Kierkegaard und Auerbach das Paradigma biblischen Erhabenen. Es sind aber auch Abgründe unser eigenen Kultur, denn was hier verhandelt wird, ist nicht nur psychologisch – was bedeutet es für den Vater, seinen Sohn zu opfern? –, sondern allgemeiner kulturell bedeutsam: Was bedeutet die Opfervorstellung, die für unsere Kultur zentral ist, zumindest insofern sie noch eine christliche ist? Heißt es noch etwas, dass jemand ‚für‘ uns gestorben sei, und wenn ja: wie lässt sich dieses etwas gestalten? Was heißt es, ‚für‘ jemand anders einzustehen, und sei es nur als Vater für den Sohn? Hinter der friedlichen Vorstellung, die wir von unserer religiösen Tradition haben, zeigt sich eine blutige Spur.

Ihren prägnantesten Ausdruck findet diese Beunruhigung immer wieder in Traum- und Visionsbildern, die von der Jung’schen Tiefenpsychologie ebenso zu inspiriert sind wie von prophetischen und apokalyptischen Gesichtern. Es sind Visionen von Feuer und Zerstörung, von Massentod und Blutvergießen, von Zerreißung, Vernichtung, Scheiterhaufen. So träumt Joseph, dass er das Blut seines Sohnes trinkt, dass er in fremde Welten hinabtaucht, er sieht Tempeln unter der Erde und Bäume unter dem Meer, Grabmonumente und Felder voller Knochen. Schließlich sieht er, wieder auf dem Grunde des Meeres, Blutstränge, die alles Blut, das je vergossen wurde, in die Tiefe hinableiten, in eine Schwitzkammer, in der ‚einer‘ sitzt: „Und der war der Grausamste der Grausamen, das Ungeheuer, das Joseph sah, als er sah über die Grenze hinaus alles Gesehenen, über die Grenze hinaus alles Sehens“. Joseph sieht Gott – als Gott des Blutes, blutsaugend und zugleich blutend, gefesselt durch jene Blutstränge: „Als zerrissen IHN, die IHN tränkten und speisten und trauften das Blut durch den gläsernen Kasten. Da: Verzerrt von Leid von maßloser Qual, das Angesicht, das heraufsah zu Joseph. Und Joseph entsetzt sich vor IHM, der so leidet.“ Es sind diese Bilder, die man behält, auch wenn man sie nicht versteht und um die auch die Handlung immer wieder kreist. Es sind Bilder weniger der Ehrfurcht als des Grauens – und Bilder, die gar nicht so entfernt sind vom schwarzen Erhabenen des Kinos, von den Monstren und Aliens fremder Welten und den postapokalyptischen Landschaften und Horrorszenarien.

Roths Buch ist ein Buch über das Buch, aber auch ein Buch der Träume und Visionen, vielleicht zeigt es sogar, wie dieses Buch – und damit auch der zentrale Platz der Bibel in unserer Kultur und ihrer Geschichte – und jene Träume zusammenhängen. Es zeigt damit etwas an unser eigenen Kultur, das man nicht oft und wohl auch nicht gerne sieht: die Kehrseite des fein gesponnenen narrativen Netzes, aber auch die Kehrseite unser wachen Existenz, sei sie nun gläubig oder säkular. Vielleicht, so spürt man hier, ist die ‚Religion‘ des Textes eher hier: Sie ist nicht mehr einfach Sehnsucht nach Präsenz, sie besteht nicht mehr in den Bildern der heilen Welt und der Heilung als vielmehr in Schreckensfantasien und Angstträumen. Vielleicht ist Religion eben nicht nur Glauben und Vertrauen, sondern auch Grauen – und vielleicht ist dieses Grauen uns sogar oft viel näher als wir denken, näher als jenes Vertrauen sogar. Dass der Text diese Schicht berührt, macht ihn radikal, dass er sie nicht immer kontrollieren kann oder will, ist nur konsequent.

Anmerkung der Redaktion: Der Text geht auf einen Vortrag bei der von Michaela Kopp-Marx und Georg Langenhorst organisierten Tagung „Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth“ (10. und 11. Oktober 2012, DLA Marbach) zurück; insbesondere wurden Anregungen und Kommentare der Diskussion aufgenommen. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
510 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310513

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch