„Der russische Wahnsinn!“

In seinem neuen Roman „Der Schneesturm“ reist Vladimir Sorokin auf den Schultern großer Vorgänger durch den russischen Märchenwald

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Platon Iljitsch Garin heißt der Held in Vladimir Sorokins neuem Roman „Der Schneesturm“. Es ist das – nach „Der Tag des Opritschniks“ (2008) und „Der Zuckerkreml“ (2010) – dritte Buch, welches sein Autor in einer imaginären Zukunft spielen lässt, die sich zu großen Teilen aus der russischen Vergangenheit speist, im Grunde aber die Gegenwart meint. In Moskau herrscht auf totalitäre Weise ein „Gossudar“. Seine Leibgardisten, die gefürchteten Opritschniki, sorgen mit terroristischen Mitteln für Ruhe im Land. In Ungnade gefallene Oligarchen werden liquidiert, Intellektuelle peitscht man öffentlich aus, den Darbenden wird einmal jährlich mit einer Kremlnachbildung aus Zucker das Leben so demonstrativ wie zynisch versüßt. All das spielt sich im Schatten der „Großen Russischen Mauer“ ab und wird auf dem Rücken eines trägen, mit Alkohol und Drogen ruhiggestellten Volkes ausgetragen.

Von all den Aufregungen, die Sorokin in den beiden Vorgängern des „Schneesturms“ zu den irrwitzigsten Einfällen verleiteten, ist fernab der Moskauer Metropole, in ländlichen Orten, die Saprudny, Dolgoje, Choprowo oder Stary Possad heißen, wenig zu spüren. Hier geht es noch zu wie einst im russischen Märchenwald. Wer friert, kriecht auf den Ofen hinauf. Zwerge und Riesen treiben ihr (Un-)Wesen. Ein Schluck Wodka gilt als Medizin gegen alles. Und wie Zauberei sehen einige technische Neuerungen aus, die sich in das Ambiente, durch das die Hexe Baba Jaga einst auf ihrem Besen flog, verirrt haben.

Ruhig und bedachtsam lässt der Autor sein Wintermärchen angehen. Der überbordenden Fantasie, aus der Werke wie die „LJOD“-Trilogie, „Der himmelblaue Speck“ oder „Der Obelisk“ hervorgegangen sind, wurden deutlich Zügel angelegt. Und wo es um winterliche Stürme in der Weite der russischen Provinz, Landärzte, dralle Müllerinnen, Pferdegespanne, Stationsvorsteher und Brotkutscher geht, ist die klassische russische Literatur des 19. Jahrhunderts natürlich nicht weit. Sorokin, seit je ein wunderbarer Imitator all der großen Autoren von Puschkin bis Tolstoi, Tschechow und Gogol, bedient sich der literarischen Mittel seiner Vorgänger deshalb so souverän wie augenzwinkernd. Weit ausholende Sätze ziehen den Leser in die Szenerien hinein. Niemand hat es eilig außer der Hauptfigur – und derem Vorankommen werden stets neue Hindernisse in den Weg gelegt, die Anlass bieten für kauzige Dialoge und abschweifende Erörterungen.

Was aber treibt Sorokins Helden, sich mitten im russischen Winter auf einen Kampf mit der Natur einzulassen, aus dem er nur als Verlierer hervorgehen kann? Was bringt ihn dazu, mitten in einen immer stärker werdenden Sturm hineinzufahren? Wieso vertraut er sich und sein Leben einem dubiosen Kutscher an, dessen Ortskenntnis nicht die beste ist? Es scheint ganz so, als besäße dieser Garin noch klare Begriffe von seiner Verantwortung als Arzt und Vorstellungen von den Pflichten des Menschen seinesgleichen gegenüber. Eine Art protestantische Ethik hält den Mann auf den Beinen und, der Kälte und dem Schnee trotzend, im Schlitten. Allein er ist der Einzige, der sich diesem Antrieb verpflichtet fühlt, während alle ihm Begegnenden – sei es die Müllerin, deren Liebesleben mit ihrem gnomenhaften Mann brachliegt, oder die vier Kasachen, die mit neuartigen Rauschmitteln dealen – nur auf sich bedacht sind.

Ein Serum soll er übrigens überbringen gegen eine ausgebrochene Epidemie. Menschen, die zu Werwölfen mutiert scheinen, machen den Ort Dolgoje unsicher. Mit scharfen Klauen fallen sie über ihresgleichen her und nicht einmal die festgefrorenste Erde ist in der Lage, die todbringende Meute in ihren Gräbern zu halten. Doch in Dolgoje, sozusagen jenseits des Märchenwalds, den Sorokins Duo aus Arzt und Kutscher durchquert, kommen die Helfer nie an. Und hier, wo der Text scheinbar am weitesten entfernt ist von der Realität, darf auch seine entschiedenste Gegenwartskritik vermutet werden. Sie richtet sich gegen eine sich immer stärker vom Rest der Welt abschottende und zunehmend aus den Mythen der Vergangenheit lebende Gesellschaft. Gegen ein Gemeinwesen, das dabei ist, sämtlichen jüngst importierten demokratischen Gepflogenheiten adieu zu sagen und jeden noch so kleinen Widerstand gegen sich im Keim zu ersticken.

Aber auch Sorokins imaginiertes Russland ist nicht allein auf dem Globus. Und eine Mauer so groß, um sich gegen Ideen und Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen abzuschotten, gibt es nicht. Schön deshalb die Schlusspointe des Romans „Der Schneesturm“. Da werden der halb erfrorene Doktor Garin und sein bereits toter Kutscher Kosma, genannt Krächz, nämlich ausgerechnet von Chinesen gefunden. Chinesen, die alles einsammeln, was sich brauchen lässt, um den Ort der Niederlage dann ungerührt sich selbst und dem weiter fallenden Schnee zu überlassen.

Titelbild

Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Roman.
Übersetzt aus dem Russichen von Andreas Tretner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
210 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783462044591

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