Am Ende der Parabel

Gerhard Neumann erkundet hellsichtig Kafkas Mikrologie der Macht

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber“, heißt es in Kafkas Roman „Der Proceß“. Das neue Kafka-Buch des Münchner Germanisten Gerhard Neumann ist ein guter Beweis dafür, wie sich aus einer stabilen Grundthese über Jahrzehnte hinweg Textansichten herausbilden können, die dem Leser immer wieder reiche und von Selbstzweifeln unangetastete Einsichten schenken können. Im Jahr 1968 hat Neumann in einem Aufsatz über das „gleitende Paradox“ eine Schlüsselfigur zum Verständnis Kafkas untersucht. 2012 stellt sein aus mehreren Aufsätzen der letzten Jahre hervorgegangenes Buch die Figur der „blinden Parabel“ vor, abermals eine wahrlich kafkaeske Denkform.

Blind ist die Parabel, wenn sie ihren Empfänger aus dem Blick verloren hat oder wenn sie keinen mehr erreichen kann (wie in Kafkas Parabel „Eine kaiserliche Botschaft“). Das Verhältnis von Machtausübung und Machterleiden stimmt nicht mehr, der Autor ist ein angepasster Bürger seiner Zeit, äußerlich integriert, als Schreibender jedoch ein radikaler Außenseiter. Gerhard Neumann nimmt dieses ,gleitende Paradox‘ unter eine Lupe, die sich philologisch, hermeneutisch, kulturwissenschaftlich und ethnologisch einstellen lässt und auf dem Labortisch des Interpreten die mikrologische Form eines Macht-Dispositivs annimmt. Kafka ist ja ein „Experte der Macht“ (Elias Canetti), der sich sprachlich und literarisch der auseinandergeratenen Ordnung der Dinge bemächtigt und beständig „autobiographisches Schreiben als Lebens-Werk“ inszeniert.

An parabolischen Episoden aus den drei Romanfragmenten und mehr noch an Kurzprosatexten und Erzählungen zeigt der Interpret die Mehrfachgeburt der Literatur: aus der Tragödie des Bildungsromans, der zwangsläufig scheitert, aus der Korporalität des Künstlers, aus dem Programm einer ästhetischen und ethischen Selbstsorge, aus der Beschreibung eines Kampfes zwischen Semiotik und Hermeneutik, aus dem parasitären Spiel der Zeichen im „Schloß“, aus der Korrespondenz zwischen Schrift- und Bildzeichen in den „Tagebüchern“. Das alles wird auf einem theoretischen Hochplateau vermittelt, bisweilen etwas selbstgefällig (und wichtige Kafka-Studien wie die von Oliver Jahraus über „Leben, Schreiben, Machtapparate“ geflissentlich ignorierend), aber immer anschaulich genug, um Entdeckungen nachvollziehbar zu machen (etwa vom Koffer-Fetisch im „Verschollenen“). Eine reichhaltige und wertvolle Summe aus über 40-jähriger Kafka-Forschung, eine sehr anregende Lektüre.

Titelbild

Gerhard Neumann: Franz Kafka. Experte der Macht.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
238 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238732

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