Kafkas neue Kleider

Franz Kafkas Werke in einer unkommentierten Retro-Neuauflage

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abermals eine Werkausgabe: der ganze Kafka auf 3.000 Seiten. „Das Werk“ umfasst die drei fragmentarischen Romane, die von Kafka selbst veröffentlichten Erzählungen und die zu Lebzeiten unveröffentlichte Prosa (inklusive des „Briefs an den Vater“); „Die Briefe“ enthalten die Korrespondenzen mit Felice Bauer, Milena Jesenská, mit Ottla und der Familie, mit den Eltern und die erstmals 1958 von Max Brod besorgte Auswahl der „Briefe 1902-1924“; in „Die Tagebücher“ finden wir das 1937 erstmals publizierte Textkorpus der zwölf Quarthefte samt der zwei Loseblattkonvolute aus den Jahren 1910 bis 1923 sowie die drei Reisetagebücher aus den Jahren 1911/1912.

Was ist davon zu halten? Das Impressum nennt als Textgrundlage dieser Ausgabe die „Gesammelten Werke“, herausgegeben von Max Brod, die in der ersten großen Ausgabe des S. Fischer Verlages (1950-1958/1974) maßgeblich die Rezeption des Prager Autors und das Kafka-Bild im deutschsprachigen Raum bestimmt haben. Im Vergleich mit den neuen editionskritischen Ausgaben (der „Kritischen Kafka-Ausgabe“ seit 1982 und der „Frankfurter Kafka-Ausgabe“ seit 1995) können wir heute die dreifache Bedeutung von Max Brod als Nachlassverwalter, erstem postumem Kafka-Herausgeber und erfolgreichem Retter und Mediator des Werkes seines Freundes besser einschätzen. Brod war es, der im Nachwort zu seiner „Prozeß“-Ausgabe Kafka als Meister der „großen epischen Form“ inthronisiert hat, auf Kosten der Handschriftentreue, aber durchaus im Sinne vieler Leser, deren „Wut des Verstehens“ wohl nicht auch noch durch diffizile Editionsfragen ,verwirrt‘ werden sollte.

So mutet es merkwürdig an, wenn Kafkas Werke heute in einer solch runden Leseausgabe wie der des Lambert Schneider Verlags präsentiert werden. Es ist eine Retro-Ausgabe, die den skrupulös schreibenden Autor unterschlägt, der in der Erzählung „Die Verwandlung“ statt „Sein letzter Blick“ schrieb „Sein letzter Brief“, weil er offenbar an die Fülle der Briefe dachte, die er an seine Geliebte Felice richtete, und der, wie der Kafka-Biograf Rainer Stach erwähnt, fast ein Jahr brauchte, um die Fahnen für den Prosaband „Ein Landarzt“ zu korrigieren, der 1920 erschien. Hier aber verschwindet der Autor hinter seinem Werk, das selbst beinahe kafkaesk anmutet. Kein Vorwort, keine Nachbemerkung hilft dem Leser auf die Sprünge.

Aber wozu auch immer wieder „neue Kleider“? Gibt es nicht eine brillant informierende, wenn auch vom einzelnen Forscher längst nicht mehr zu überschauende Industrie der Kafka-Lektüren und -Moden? Einzig zu dem Verlag, der diese unkommentierte Kafka-Ausgabe herausgibt, hätte man gerne etwas mehr gelesen. Das Wissenswerte kann man auf der Homepage des Lambert Schneider Verlags nachlesen, der seit 1999 unter dem Dach der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft residiert, wo bekanntlich gute Leseausgaben erscheinen. Lambert Schneider (1900-1970) gehört zu den bedeutenden Verlegern des 20. Jahrhunderts. Er verlegte jüdische Literatur, gab Martin Bubers Übersetzung des Alten Testaments heraus und machte sich für ein interreligiöses Programm stark. Nach der Insolvenz (1930) half ihm der Kaufhausmagnat Salman Schocken aus der Klemme, indem er Schneider zum Leiter des Schocken Verlags ernannte. Dort erschien, erst in Berlin (1935), dann nach dem Verbot der Nazis in Prag (bis 1937), die erste Kafka-Ausgabe, „Gesammelte Schriften“. Während Schocken 1938 nach Palästina emigrierte, gab Schneider in seinem noch bestehenden Verlag Klassiker-Editionen heraus. 1945 kam der Verlag nach Heidelberg. Nun ist er ein Imprint der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Und wirbt mit der Cover-Schlagzeile „Am besten lesen“. Was man nicht konkurrenzlos verstehen sollte, aber als Einladung zur Kafka-Lektüre.

Titelbild

Franz Kafka: Das Werk - Die Tagebücher - Die Briefe.
Herausgegeben von Max Brod.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2012.
2985 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783650254481

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