Systemtheorie und Hermeneutik

Über die von Henk de Berg und Matthias Prangel herausgegebenen Aufsätze zu einer problematischen Beziehung

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Auch die Hermeneutik ist vor der Systemtheorie nicht mehr sicher." Mit diesem Einleitungssatz zu seinem Beitrag formuliert Arnim Nassehi so etwas wie ein Motto des Gesamtbandes. Der Satz mag so klingen wie eine expansionistische Okkupation einer altehrwürdigen Lehre durch eine neue Supertheorie. In der Tat läßt sich dieser Eindruck erhärten, wenn man auf die thematisch ausgreifende Publikationsfolge der beiden Herausgeber, de Berg und Prangel, blickt, in der dieser Band steht. Er ist immerhin schon der dritte Sammelband in einer Reihe, deren erster Band "Kommunikation und Differenz" aus dem Jahre 1993 ausschließlich - so der Untertitel - "Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft" behandelte und deren zweiter Band "Differenzen" aus dem Jahre 1995 "Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus" - so dieser Untertitel - situierte. Die Bände folgen damit einer Tendenz der Systemtheorie Luhmannscher Prägung, sich selbst als Theorie zum Gegenstand zu machen. Als Supertheorie hat sie ihre Konturen nicht zuletzt in Auseinander- und Absetzung von anderen Theorien gewonnen, bislang insbesondere gegenüber der Dekonstruktion.

Wenn nunmehr auch die Hermeneutik in den Blick kommt, so hat das eine doppelte Perspektive. Zum einen setzt dies die Vereinnahmung fremder Theoriebestände fort. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik zugleich eine Fortführung der Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion (wie es die Beiträge von Stanitzek, Gumbrecht, Ellrich oder Werber/Stöckmann deutlich machen), geht es doch gerade darum, wie das Erbe der Hermeneutik anzutreten sei; Fragen sind zu klären wie: Was ist mit dem Subjekt, mit Sinn, Zeichen, Text, mit Intention und Bewußtsein, was ist nicht zuletzt mit der Literatur und dem Autor?

Zum anderen aber ist das Erbe nicht so unproblematisch, wie es scheinen mag, denn es macht auf ein immanentes Defizit der Systemtheorie aufmerksam, das gerade bei ihrer literaturwissenschaftlichen Applikation zutage tritt. Vor dem Hintergrund der Hermeneutik beschäftigen sich nahezu alle Beiträge mit dem Problem, daß es der Systemtheorie nicht mehr gelingt, auf das Kunstwerk in seiner Substanz, auf den Text in seiner literarischen sowie textuellen Eigenqualität zurückzugreifen.

Diese Doppelperspektive darf jedoch nicht mit der Zweiteilung des Bandes verwechselt werden, auf die die Herausgeber explizit aufmerksam machen: Der theoretischen Erörterung der Möglichkeiten systemtheoretisch fundierter Literaturwissenschaft folgt ein praktischer Teil, der die Anwendung der Theorie an konkreten Fragestellungen bzw. an Texten erprobt. Denn alle Beiträge sind systemtheoretisch ausgerichtet, stellen also den Versuch dar, das "hermeneutische Potential der Systemtheorie" zu aktualisieren. Die in Theorie und Praxis implizierte oder exerzierte Theorieexpansion ist immer zugleich eine Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Defizit.

Daher ist es vielleicht nicht zuviel gesagt, wenn man die Frage der Hermeneutik zur Gretchenfrage der (literaturwissenschaftlichen) Systemtheorie erklärt: Wie hältst Du es mit dem Kunstwerk, mit dem literarischen Text? (Nebenbei bemerkt: Nach wie vor wird nur bedingt erkannt, welche Bedeutung die literaturwissenschaftliche Diskussion für die Entwicklung der Systemtheorie besitzen kann.) Diese Frage scheidet die Geister und formt die Parteiungen: Die Bandbreite reicht von der Forderung, die Weber bereits 1993 in seiner Dissertation "Literatur als System" erhoben hat, nämlich die Systemtheorie müsse "auf die Ebene von Texten" 'durchgreifen', bis hin zur völligen Ablehnung des hermeneutischen Zugriffs auf Texte wegen der Intransparenz des Bewußtseins, wie sie die nicht-Luhmannianische Systemtheorie der Siegener Schule (LUMIS) vertritt. (Diese Gruppe kommt nur indirekt in der Stimme Kramaschkis zu Wort, mit dem sich de Berg und Prangel auseinandersetzen.)

Und so finden sich auch in diesem Band die unterschiedlichen Lager und Richtungen wieder, die sich um diese Frage gebildet haben. Während z.B. Nassehi, Sill und de Berg/Prangel dieses Defizit durch ein neuartiges Textmodell auszufüllen gedenken, thematisieren andere, Hühn und Schwanitz, die systemtheoretischen Gedankenfiguren als literarische Strukturen. Werber (zusammen mit Stöckmann) und sein Lehrer Plumpe projizieren in ihren Beiträgen das systemtheoretische Modell der gesellschaftlichen Entwicklung von der Stratifikation zur funktionalen Ausdifferenzierung auf die Literatur, ihre Struktur und Rezeption.

Daneben nutzen die Beiträge von Stanitzek, Gumbrecht und Ort dieses 'hermeneutische' Defizit zur Kritik der Systemtheorie, um Grenzen und Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Applikation aufzuzeigen. Schon die ersten beiden Beiträge von Stanitzek und Gumbrecht setzen daher die Gretchenfrage auf die Tagesordnung. Stanitzek verfolgt die Theorieentwicklung Luhmanns bis zur "Kunst der Gesellschaft" 1995 nach und zeigt auf, wie sich die Systemtheorie aufgrund einer der Kunst unterstellten Selbstreflexivität um die Möglichkeit einer positiven Kunstkritik bringt. Gumbrecht schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er konstatiert, daß mit der systemtheoretischen Differenz von Medium und Form die Materie regelrecht auf der Strecke bleibt. Ort ist zurecht in der Mitte des Bandes situiert, versuchen doch seine Überlegungen eine Gelenkstelle in den Theorieoptionen von Systemtheorie und Hermeneutik, Sozialwissenschaft und Literaturwissenschaft zu markieren. Seiner Meinung nach muß eine einseitige Konzeptualisierung der Literatur als Sozialsystem zuungunsten einer Konzeptualisierung als hermeneutisch zugängliches, d.h. interpretierbares Symbolsystem vermieden werden.

Der Beitrag, den Nassehi und Sill hierzu leisten, besteht insbesondere darin, einen systemtheoretischen Textbegriff zu entwerfen. Er beruht auf dem Theoriekonzept der Kommunikation und sieht den Text als kommunikatives Ereignis, das in seiner ereignishaften Gegenwärtigkeit zugleich dem Kommunikationsprozeß angehört, aber auch ein Strukturganzes ausbildet. Sill will durch die Integration literaturwissenschaftlicher, insbesondere narratologischer Elemente die Fundierung der Systemtheorie erweitern. Im kommunikativen Ereignis des literarischen Textes manifestiert sich eine Beobachtung zweiter Ordnung, die - entgegen Luhmanns Idee der Ausdifferenzierung - keinem Code und keinem Programm folgt und somit frei von beobachtungsleitenden Unterscheidungen beobachten kann. Umgekehrt nutzt Ellrich das Potential der Systemtheorie, Paradoxien theoretisch handhaben zu können, um das hermeneutische Paradox der Uneinholbarkeit der Interpretation offenzulegen und so zu reformulieren, daß ein Verstehen des Verstehens möglich wird. De Berg und Prangel verteidigen ihr sog. 'Leidener Modell' (gegen den Siegener Kramaschki), das sie schon in den vorausgegangenen Bänden entfaltet haben. Es beruht auf denselben Voraussetzungen, die auch Sill und Nassehi machen und zielt auf eine bedeutungsgenerierende Text-Kontext-Differenzierung. Interpretation wird somit zum Nachvollzug der historisch ereignishaften Kontext-Differenz, die den Text erst semantisch konstituiert.

Eine wechselseitige Verschränkung von Symbol- und Sozialsystem versuchen Hühn und Schwanitz, indem sie Textstrategien auf die kognitiven sowie kommunikativen Bedingungen, wie sie die Systemtheorie im Konzept der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation entwickelt hat, zurückführen. Dadurch werden operative Differenzen wie die zwischen Selbst- und Fremdreferenz, Individualität und Gesellschaft (als Umwelt und System), zwischen Erleben und Handeln für die Literaturinterpretation gerade am Beispiel des Liebesdiskurses einsetzbar. Das Potential von Literatur besteht gerade darin, durch veränderte Attribution Paradoxien auflösen zu können; z.B. kann sie Handeln als Erleben ausgeben oder Intimität und Öffentlichkeit verbinden.

Am Beispiel des "Werther" greift Plumpe die Differenz von Individualität und Gesellschaft auf und zeigt, wie Literatur eine soziale Funktionalisierung unterlaufen und gerade damit autonom werden kann. Am Beispiel von Konkreter Poesie und Prenzlauer-Berg-Literatur demonstriert Mann denselben Sachverhalt. Zwar besteht die Funktion der Literatur darin, literarische Lösungen für soziale Probleme anzubieten, doch kann gerade in sozialen Konfliktsituationen die Irritation der Erwartung, das Subversive und Avantgardistische der Kunst, Anschlußfähigkeit erzeugen. Werber und Stöckmann liefern eine Rekonstruktion der Kategorie des Autors auf der Basis der systemtheoretischen Modells sozialer Ausdifferenzierung. Im Nebeneinander nicht mehr vermittelbarer sozialer Kontexte (Polykontexturalität) ist der Autor eine hermeneutische und somit für das Literatursystem spezifische Kategorie.

Überblickt man alle Beiträge, so zeigt es sich relativ deutlich, daß die genannte Gretchenfrage im Überschneidungsbereich literaturwissenschaftlicher Fragestellungen und systemtheoretischer Theorieangebote und das heißt im Überschneidungsbereich von Literatur als Symbol- und Sozialsystem beantwortet werden muß. Hierzu greift man auf das systemtheoretische Konzept der Kommunikation zurück; doch es zeigt sich, daß dieses Konzept zu eng ist, um beide Dimensionen berücksichtigen zu können. Das läßt sich an den entsprechenden Vereinseitigungen ablesen, die die Eigenqualität von Literatur als sprachlich-textuelles, eben als hermeneutisch interessantes Produkt aus den Augen verlieren. Anders gesagt: Kommunikation scheint das systemtheoretische Nadelöhr zu sein, durch das alle literaturwissenschaftliche Applikation hindurch muß. Literatur ist - systemtheoretisch gesehen - immer nur literarische Kommunikation. Die Frage wäre also, ob man nicht von vornherein, wie dies bei Hühn oder Ellrich anklingt, das Kombinationsvermögen nutzt, das die Systemtheorie zur Verfügung stellt, indem man solche für die Theorieentfaltung produktive Differenzen wie die zwischen Bewußtsein und Kommunikation nutzt, um Literatur als doppelperspektivisches Medium zu modellieren, das einerseits ein schriftbasiertes und symbolisches Kommunikationsereignis und andererseits auch den sozialen Kommunikationsprozeß im Funktionsrahmen der Gesellschaft miteinander vermittelt.

Titelbild

Henk de Berg / Matthias Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik.
Francke Verlag, Tübingen/Basel 1997.
292 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3772021778

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