Mehrdimensionalität

Irene Pimmingers Untersuchung zur Geschlechtergerechtigkeit verzichtet auf ein geschlossenes Theoriegebäude und abschließende Antworten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der „normativen Klärung und soziologischen Konkretisierung“ des Begriffs Geschlechtergerechtigkeit hat sich Irene Pimminger in ihrer jüngsten Monografie verschrieben. Dabei bedient sich die Soziologin ausgiebig des berüchtigten nominalistischen Wissenschaftsjargons ihrer Disziplin. Lässt man sich davon jedoch nicht abschrecken, sondern arbeitet sich durch die gut 160 Seiten des eher schmalen Bändchens, wird man mit einigem Erkenntnisgewinn belohnt.

Mit ihrer Untersuchung möchte die Autorin „einen Beitrag zur Konzeptionalisierung eines Begriffs von Geschlechtergerechtigkeit leisten“ und einen „normativ-theoretischen Bezugrahmen“ erarbeiten, „der einer kritischen Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Strategien dienen kann“. Hierzu sei ein „konkreter Gerechtigkeitsbegriff“ notwendig, „der über die Klärung formaler Prinzipien hinaus durch eine Anbindung an die historische Realität auch die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Verwirklichung aufwirft“.

Zunächst einmal interpretiert sie das „normative Prinzip der Freiheit“ als „Freiheitsraum“, der sich an der „Begrenzung oder Eröffnung von Möglichkeiten“ bemesse und ein „unverzichtbarer Faktor von Kritik“ sei, wobei beide auf der „Basis des Gebots der universellen Achtung“ gründen. Sodann bringt sie das Verhältnis der „Gerechtigkeitsprinzipien Gleichheit und Freiheit zueinander auf die griffige Formel „Gleichheit, welche Freiheit eröffnet, und Freiheit, welche auf Gleichheit beruht.“

Die Autorin gliedert ihre Untersuchung in drei Teile. Zuerst legt sie die „normativen Prinzipien“ ihres Gerechtigkeitsbegriffs dar. Anschließend faltet sie die drei „Dimensionen“ von Geschlecht auf, um in einem dritten Schritt die Ergebnisse der ersten beiden Teile zusammenzuführen.

Pimminger unterscheidet die „strukturelle Ebene“ der Kategorie Geschlecht von dessen „symbolischer Dimension“. Als drittes kommt „Geschlecht als Identitätskategorie“ hinzu. Zunächst erläutert sie, dass und warum sich Geschlechtergerechtigkeit unter dem strukturellen Aspekt „nicht nur an der Gleichstellung von Frauen und Männern im Erwerbssystem und einer gleichen Verteilung von familiärer Reproduktionsarbeit auf Männer und Frauen festmachen lässt“.

Wichtiger noch sei, wie stark die gesellschaftliche Relevanz der „Reproduktionsarbeit“ anerkannt wird und eine „angemessene Berücksichtigung in der Verteilung von Arbeit und Einkommen findet“. Auf der zweiten, der symbolischen Ebene diskutiert sie „die Frage der individuellen Wahlfreiheit“. Zunächst legt sie deren Problematik „angesichts der androzentrischen Ausrichtung der Gesellschaftsordnung“ dar und plädiert für „die Notwendigkeit eines übergeordneten Maßstabs in der Anwendung des Gleichheitsgebots“. Denn angesichts der „Ambivalenz zwischen Aneignung und Affirmation, Selbstbestimmung und Selbstdisziplinierung“ könne Geschlechtergerechtigkeit nicht etwa „an der Freiwilligkeit bemessen werden, mit der Frauen an ihrer Inszenierung und Vermarktung als sexuellem Objekt mitwirken“.

Eine sehr überzeugende Überlegung, die einen sofort an die von interessierter Seite immer wieder gerne in die Diskussion geworfene angeblich ‚freiwillige und selbstbestimmter Prostitution‘ denken lässt. Pimminger rückt nun die Frage ins Zentrum, wie eine „nicht-sexistische Begehrensordnung“ gestaltet sein könnte. Im Abschnitt über „Geschlecht als Identitätskategorie“ wendet sie sich schließlich den „Vereinseitigungen und Ausschlüsse“ zu, „die durch das System der Zweigeschlechtlichkeit produziert werden“.

Wie Pimminger darlegt, sind die genannten Dimensionen von Geschlecht „realiter“ zwar „ineinander verschränkt“, doch lassen sie sich keineswegs aufeinander reduzieren. Darum könne der „Grad an Geschlechtergerechtigkeit“ nur unter Berücksichtigung aller drei Momente „bemessen“ werden. All dies ist ohne weiteres nachvollziehbar.

Auch erklärt sie recht überzeugend, warum sie auf ein „geschlossenes Theoriegebäude“ verzichtet und stattdessen für eine „merkdimensionale Perspektive“ plädiert, die sich verschiedener theoretischer Ansätze bedient. Denn diese „repräsentieren nicht etwa bloß unvereinbare theoretische Perspektiven“. Vielmehr leuchten sie „aus unterschiedlichen Blickwinkeln jeweils spezifische Problemebenen“ aus und erlauben es daher erst gemeinsam das „komplexe Spannungsfeld“ der Geschlechtergerechtigkeit auszumessen. Mit „Gleichheitsansätzen“ lassen sich „strukturelle Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen“ am besten analysieren, während sich die ‚geschlechterspezifische‘ Hierarchie der herrschenden „Denk- und Wertordnungen“ mit ihrem „Androzentrismus und Sexismus“ am besten differenztheoretisch als „gerechtigkeitsrelevantes Problem“ offen legen lassen. „Positionen der Aufhebung“ wiederum sind am besten geeignet, die „repressiven Momente“ einer „bipolaren Identitätskategorie“ ins Licht zu rücken.

Pimminger macht sich nicht etwa anheischig, „abschließende Antworten“ auf alle aufgeworfenen Fragen bieten und die Probleme letztgültig lösen zu können, doch formuliert sie diese Fragen konzis und setzt sie somit überhaupt erst einmal auf die Tagesordnung.

Titelbild

Irene Pimminger (Hg.): Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit? Normative Klärung und soziologische Konkretisierung.
Verlag Barbara Budrich, Opladen 2012.
164 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783866494824

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