Kindheiten

Zwei Romane von Burkhard Spinnen und Hermann Schulz

Von Michael SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wofür Mittelschichtfamilien ihre Sparverträge abschließen und langfristig Kredite abstottern, lässt sich häufig ungefähr so beschreiben: 47 Doppelhäuser, alle mehr oder weniger gleichzeitig bezugsfertig, in jeder einzelnen Wohneinheit Platz für eine Familie, bestehend aus Mann, Frau und zwei Kindern, nebst einem Auto -- und in der Garage auch noch mit Stauraum für Rasenmäher und Gartenschlauch. So eine Wohngegend kann zum Beispiel "Dransfeld" heißen, wie in Burkhard Spinnens neuem Roman "Belgische Riesen", und bestecken den Rahmen, in dem heutzutage Kindheitserfahrungen gemacht werden. Etwa von Konrad, der zehn Jahre alt und mit seinem kleinen Bruder und seinen Eltern vor drei Wochen in eine dieser Doppelhaushälften eingezogen ist, und der sich nun damit beschäftigt zu erkunden, wo in der Nachbarschaft andere Kinder - natürlich nur Jungs - zum Spielen zu finden sind.

Es dauert nicht lange und er findet Gesellschaft, denn diese Siedlung ist dafür geplant worden Familien zusammenzubringen, die die gleichen Strukturen und Sorgen haben. Damit einher geht aber auch, dass sie fast immer auch die gleichen Lösungen für ihre Probleme finden: den VW-Passat mit großer Heckklappe für Fahrräder und Urlaubsfahrten, die niedrige Buchsbaumhecke, drei Wochen alt, zum Abgrenzen des eigenen Vorgartens. Ganz nebenbei entwirft Burkhard Spinnen in seiner Kindergeschichte mit spitzer Feder eine kleine empirische Soziologie der bürgerlichen Neubausiedlung - und genauso präzise charakterisiert er die Zeichen für Devianz: der Vorgarten nach mehreren Wochen immer noch nicht in Arbeit und in der Garage noch kein Gestell für die Gartenwerkzeuge. Wo noch Lehm vor dem Haus liegt, kann das Leben drinnen auch nicht in Ordnung sein - und richtig: Es stellt sich heraus, dass das Ehepaar, das hier einziehen wollte, sich kurz zuvor getrennt hat, und dass hier nun eine Frau alleine mit ihrer Tochter lebt und über ihrem Kummer den Sinn für das Interieur wie für das gesamte Ensemble vermissen lässt.

Im Haus Nr. 28b ist vieles aus dem Lot, aber eigentlich leben darin die interessanteren Menschen - nur dauert es eine Weile, bis Konrad merkt, dass man mit Friederike, die sich lieber "Fridz mit 'd'" nennen lässt, ganz anders und viel aufregender spielen kann als mit den übrigen Gleichaltrigen. Wie er das lernt und welche Abenteuer er erlebt, als er von Fridz zum Helfershelfer bei ihrem Rachefeldzug gegen die neue Freundin ihres Vaters erkoren wird, das ist der Plot, den Burkhard Spinnen auf knapp 300 Seiten ausbreitet, in einem Roman, der Kinder- und Erwachsenenlektüre zugleich sein kann. Detailgenau erzählt er vom zeitgenössischen Familienleben, von der Intimität, die sich von überkommenen autoritären Verhaltensmustern weitgehend freigemacht hat, vom Erzählen vor dem Schlafengehen, von den kleinen häuslichen Katastrophen und davon, dass Eltern und Kinder in solchen Verhältnissen tatsächlich ziemlich viel voneinander wissen können - und wie daraus Qualen und ein Gefühl von Geborgenheit zugleich hervorgehen können.

Kindheit ist ein ziemlich abgesicherter Raum: mit Computer und mit viel Spielzeug, mit einem eigenen Zimmer, mit elterlichem Chauffeursservice - und im Fall von Konrad auch mit einem lässigen Verhältnis zu Verboten. Warum soll man sich an Reglements stören, wenn man doch so viele Vorzüge genießt und eigentlich gar nicht weiß, was andernorts zu erobern sein könnte? Wäre Fridz nicht manchmal so kratzbürstig und eben ganz anders - weil diese Sicherheit für sie nämlich nicht mehr selbstverständlich ist -, er wüsste nicht, wie das Leben sonst ablaufen könnte. Das Mädchen dagegen weiß, was Scheidung bedeutet; ihre Welt ist unübersichtlicher geworden, also muss sie mutiger sein und manchmal auch geradezu tollkühn.

"Belgische Riesen" ist ein fröhlich-spöttisches Porträt jener nivellierten Mittelstandsgesellschaft, die mit dem Wirtschaftswunder groß geworden ist und sich trotz aller Krisen immer üppiger entfaltet hat. Man muss schon weit zurückblicken, um einen Sinn dafür zu bekommen, wie womöglich vorher einmal Alltag aussah - und wie vielleicht sogar die Eltern von Konrad oder Fridz noch aufgewachsen sein könnten.

Eindringlich erfahrbar wird das in einem Roman, den Hermann Schulz, der Leiter des Wuppertaler Peter Hammer Verlages, soeben bei Carlsen veröffentlicht hat: "Sonnennebel" erzählt von einer Kindheit und Jugend am Rande des Ruhrgebietes in den Jahren nach dem Krieg und in den frühen fünfziger Jahren. Es ist ebenfalls ein Buch, das auf präzise Details großen Wert legt und bei dem man genauso wenig weiß, ob es sich an Jugendliche oder an Erwachsene richten will. Spröde, unsentimental - und ohne die Ironie von Burkhard Spinnen - schildert der Roman das Zusammenleben eines Waisenjungen mit seiner jungen Tante. Die beiden haben sich gegen Kriegsende unter dem Druck der Umstände gefunden; sie gehören zusammen, nicht weil sie es wollten, sondern weil es einfach nötig war, ein kleines Kind von der Straße zu retten. Um sie her herrscht eine ähnliche Gleichförmigkeit wie in den modernen Reihenhausgebieten - aber hier sind es die engen Bergarbeiterhäuschen, die das Umfeld ausmachen, ohne jeden Luxus, ohne Charme und ziemlich verdreckt vom Kohlestaub. Hier und da steht ein Kühlschrank und vielleicht auch ein Motorrad; im allgemeinen aber sind die Menschen mit dem Nötigsten zufrieden, weil sie gerade das nämlich in den Jahres seit Kriegsende überhaupt erst wieder erringen mussten. Sie haben sich das Überleben erkämpft und ihre Gefühle dabei vernachlässigen müssen; sie wissen wenig über ihr eigenes Seelenleben und noch weniger über das der anderen. Sie können fast nichts darüber erzählen - und eigentlich noch nicht einmal danach fragen.

Freddy, der Protagonist in Hermann Schulz' Roman, wächst in einer Freiheit auf, die ein Junge wie Konrad sich gar nicht mehr vorstellen könnte. Er ist versorgt, aber nicht wirklich geborgen; er begeht Gaunereien und vernachlässigt das Gymnasium; er lebt mehr auf der Straße als im Haus; unter seinesgleichen herrschen raue Sitten und die jungen Männer, die in den Bergwerken arbeiten und eine Frau zum Heiraten suchen, erklären ihm, wie man das Leben zu nehmen hat.. Freddy ist fünfzehn und wartet darauf, dass etwas passiert, jenseits von Schule und frömmelnder Tante -- aber er würde nicht sagen können, was er denn genau vom Leben erwartet. Irgendwie raus? Eine Freundin? Einen Beruf? Er treibt vor sich hin, ziellos und ohne Leitbilder, in einer Ungebundenheit, die sich dem Mangel verdankt und nicht innerer Unabhängigkeit. Die Abenteuer im Alltag aber muss er gar nicht erst suchen, davon gibt es jeden Tag hinreichend viele.

Ungefähr vierzig Jahre liegen zwischen diesen Kindheitsmustern - kaum mehr als eine Generation. Sie spielen im gleichen Land - und beide auch im Westen -, aber es liegen Welten dazwischen. Liest man sie parallel, stellt man ziemlich bald fest, wie satt die meisten von uns mittlerweile geworden sind - und dass womöglich Einkaufszentrum und Supermarkt tatsächlich die letzten verbliebenen Herausforderungen für unsereins bereithalten.

Titelbild

Burkhard Spinnen: Belgische Riesen.
Schöffling Verlag, Frankfurt 2000.
292 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3895610348

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hermann Schulz: Sonnennebel.
Carlsen Verlag, Hamburg 2000.
232 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3551580642

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