„In dem Wunsch, zu erwachen“

In Julie Otsukas Roman „Wovon wir träumten“ werden die Hoffnungen japanischer Einwanderinnen Opfer einer allzu dunklen Nacht

Von Markus BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten müssen erzählt werden, sollen sie nicht dem Vergessen anheimfallen. Diese Einsicht ist so trivial, wie die Aufgabe, zu einer angemessenen Form der Erzählung zu gelangen, anspruchsvoll. Der 1962 in Palo Alto geborenen Julia Otsuka gelingt dieses Vorhaben in ihrem mit dem Faulkner Award ausgezeichneten Roman „Wovon wir träumen“. Ihr Trauer- und Klagegesang erinnert an die kollektiven Erfahrungen junger Japanerinnen, die nach 1919 in der bitter enttäuschten Annahme, glücklich mit einem Mann verheiratet zu werden, ins US-amerikanische Kalifornien gebracht wurden.

Das Grundgerüst des Romans bilden etliche, aus historischen Quellen stammende Originalzitate, die in eine poetische Form überführt werden. Die unterschiedlichen Erlebnisse der Japanerinnen werden zu kurzen Sequenzen verdichtet und in einer Wir-Form verknüpft, in der der Roman facettenreich und detailliert erzählend eine Einheit der Vielfalt stiftet. Otsuka komponiert derart eine Polyphonie aus der Hoffnung auf ein besseres Leben, aus Angst und dem Mut, den es braucht, um eine Reise ins Unbekannte anzutreten, sowie unzähligen Enttäuschungen: Jedes Kapitel berichtet von immigrations- und geschlechtsspezifischen Anstrengungen und Anforderungen, von der Überfahrt, der ersten Nacht mit dem neuen Mann, der Schwangerschaft und Geburt der Kinder, dem Assimilationsdruck und der Deportation japanischer Menschen im Zweiten Weltkrieg.

Bereits nach ihrer Ankunft bemerken die Frauen, dass ihr Zukünftiger nicht dem Bild entspricht, das sie vor der Überfahrt von ihm erhalten haben. Statt eines gutaussehenden, wohl situierten Mannes stehen zerlumpte Hilfsarbeiter vor ihnen, die noch in der ersten Nacht mehr oder minder unsanft über sie herfallen, sie sogar vergewaltigen. In der Folge zerrinnt ihr Leben zwischen harter Arbeit und unwirtlichen Wohnbedingungen. „Zuhause war ein Bett aus Stroh… Zuhause war ein Eckchen im Waschhaus… Zuhause war ein Stockbett…Zuhause war ein Hühnerstahl… Zuhause war ein Heubett… Zuhause war ein Fleck auf dem Boden“.

Als Folge der ersten Nacht wurden viele der Japanerinnen schwanger – was einige nicht überlebten. Der „Kopf des Babys war zu groß, und nach drei Tagen Pressen blickten wir zu unserem Mann auf… und starben“. Die Kinder anderer fanden früh den Tod, ertranken in einem „Wasserbottich, den wir über Nacht nicht hätten draußen lassen dürfen“, oder mussten in jüngsten Jahren der Mutter aufs Feld folgen, wo es „an manchen Morgen… so kalt [war], dass ihre Ohren bluteten“.

Neben Geschlecht und Klasse ist Ethnie die dritte Achse, entlang derer sich die Bürden des Immigrantinnenlebens aufzwingen. Einem enormen Assimilationsdruck ausgesetzt, verlieren die Japanerinnen ihre kulturelle Identität und falteten ihre „Kimonos und legten sie in unseren Schrankkoffer und nahmen sie jahrelang nicht mehr heraus“. Die Kinder folgen diesem Druck mit dem Willen, vollends in die US-amerikanische Kultur integriert zu werden. Die Kehrseite dieser Bemühung ist ein abfälliges Verhalten gegenüber dem Brauchtum, dem Akzent und der Sprache der Eltern – die Kinder wenden sich ab und „taten so, als würden sie kein Wort von dem verstehen, was wir sagten“, mit jedem „Tag der verging, entglitten sie uns ein wenig mehr“. Eindringlich beschreibt Otsuka den Verlust der inneren Heimat, die einzig nach dem Verlust der äußeren noch geblieben war. Der Zerrüttung der Innerlichkeit folgt das Schwinden der Wünsche. Die Japanerinnen „entwickelten eine innere Kälte, die bis heute nicht gewichen ist… Wir hörten auf, unseren Müttern zu Hause zu schreiben… Wir hörten auf zu träumen“.

Die literarische Darstellung historischer Faktizität birgt ein ethisches Moment: die Aufarbeitung vergessener Verbrechen. „Wovon wir träumten“ erinnert an die rassistische Ablehnung gegenüber der japanischen Community und die in der US-amerikanischen Geschichtsschreibung zumeist verdrängte Deportation japanischer Menschen. Die Schuld für den Angriff Japans auf Pearl Harbor, der den Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg markiert, bürgen viele der US-AmerikanerInnen ihren japanischen Mitmenschen auf. Der Kollaboration mit dem Feind verdächtigt, werden die japanischen Menschen enteignet und in Ghettos interniert. Die Ungläubigkeit der Japanerinnen weicht schnell der Gewissheit und dem permanenten Erwarten, als nächstes an der Reihe zu sein – bis sie „mitten in der Nacht abgeholt worden waren“, „bis unsere Spuren restlos verschwunden waren“. Die zunächst übrig Gebliebenen befragen sich immerfort selbst, ob ihre Vergangenheit sie denunzieren kann. Panisch vernichten sie alles, was als japanisch gilt, verbrennen die Bilder ihrer Familien und sehen zu, wie „sich das Gesicht meines Bruders in Asche verwandelte und in den Himmel entschwebte“.

In der (vielleicht) gewohnten Perspektive Westeuropas, in der dem zweiten Weltkrieg und den Menschheitsverbrechen dieser Zeit gedacht wird, nehmen die Plätze von Täter und Opfer die Deutschen und Juden ein. Der Roman stellt diesem Gedächtnis ein anderes zur Seite und weist den Begriffen von Enteignung, Deportation und Internierung weitere Akteure zu. Die Verschiedenheit der Erinnerungen und deren Koexistenz werden zu zentralen Lektüreerfahrungen.

Der Roman endet mit einem Perspektivwechsel. Das zuletzt sprechende Wir der US-AmerikanerInnen ist erleichtert, die vermeintlichen Feinde beseitigt zu haben; verdrängt die eigene Schuld an der Deportation; trauert mit schlechtem Gewissen. „Die Regale sind leer. Die Böden sauber gewischt. Die Japaner sind weg“. Sie „haben uns verlassen, und wir haben keine Ahnung, wo sie sind. Wir beginnen unsere alten Nachbarn zu vermissen, die stillen Japaner.“

Statt einer möglichst objektiven Beschreibung historischer Geschehnisse interessiert Otsuka die phänomenologisch genaue Erfassung individuell-kollektiver Erfahrung. Mehr als wissenschaftliche Historiografien eignet sich dafür die literarische Form des Romans, der einen Raum der Erinnerung öffnet. „Wovon wir träumten“ gibt den Vergessenen, die nie aus ihrem Alptraum erwachten, ihre Stimme zurück.

Titelbild

Julie Otsuka: Wovon wir träumten. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz.
Mare Verlag, Hamburg 2012.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481794

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