Internet und digitale Zukunft des Buches

Ein E-mail-Gespräch mit Dieter E. Zimmer

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieter E. Zimmer, seit den achtziger Jahren (oder schon seit immer) ein wacher Beobachter der neuen Medien, hat sein jüngstes Buch "Die Bibliothek der Zukunft" dem Thema "Text und Schrift in Zeiten des Internet" gewidmet (vgl. literaturkritik.de 2000-07-128.html). Wir sprachen mit dem Autor über sein Buch und über ungelöste Probleme und Fragen des neuen Mediums.

literaturkritik.de: Weshalb stellen Sie Ihr Buch nicht ins Netz?

Zimmer: Mein Buch wird es in einer eBook-Version geben; die kann sich dann jeder, der will, aus dem Netz herunterladen. Die erste und einzige Wahl kann das Internet für einen Autor heute auf keinen Fall sein, aus mehreren Gründen, von denen jeder einzelne ausreichen würde. Weil ein typografisch etwas anspruchsvolleres Werk sich mit Seitenbeschreibungssprachen wie HTML nur mit Mühe und in Teilen gar nicht darstellen lässt - also auch keines, das sich unter anderem, mit Beispielen, mit den Schwierigkeiten beim Transport ausgefallener Schriftzeichen im Netz befasst. Weil längere Texte am Bildschirm nicht oder nur in Notfällen gelesen werden. Weil eine Webseite, bei einer durchschnittlichen Verweildauer von vierzig Sekunden, nur mit einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne rechnen kann. Weil es im Web seine potenziellen Leser nicht erreichte - wer nicht irgendwie davon erfahren hat, fände es überhaupt nicht. Weil ein Autor, der versucht, durch das Schreiben seinen Lebensunterhalt zu verdienen, seine Sachen nicht verschenken kann. Ich bin nicht Stephen King, und ich schreibe keine Ritte auf der Boulette. Meine Drohung, das nächste Kapitel nicht zu liefern, wenn die User mir das vorige nicht freiwillig anständig bezahlen, ließe diese leider völlig kalt.

literaturkritik.de: Wir glauben, dass das Internet zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen kann. Aber auch fundamentalistische Tendenzen können über das Internet gestärkt werden. Was ist Ihre Prognose für die Zukunft?

Zimmer: Das Internet ist dabei, die reale Welt zu verdoppeln. Alles, was es realiter gibt, wird es auch im Internet geben. Natürlich auch den Fundamentalismus, der viele und immer neue Gesichter hat. Wenn irgendein Fundamentalismus die halbe Welt infizieren sollte, wird auch das halbe Internet fundamentalistische Propaganda verbreiten. Wie sich bereits gezeigt hat, überwiegt dennoch sein demokratisches Potenzial. Denn selbst in dem extremen Fall, dass die halbe Welt fundamentalistisch würde, würde das Internet dort ein Tor zur nichtfundamentalistischen Welt offen halten. Ohne das Internet würden sich die fundamentalistisch verfassten Gesellschaften total abschotten können. Über das Internet könnte immerhin die innere Opposition mit der anderen Welthälfte in Verbindung bleiben.

literaturkritik.de: Die Offenheit des Netzes führt auch (und vor allem) zur Verbreitung rechtsextremen Gedankenguts, von Pornographie usw. Unsere Justizministerin schlägt vor, bestimmte Websites durch Umleitungen stillzulegen. Was ist Ihre Meinung: Welche Filter soll unsere Gesellschaft schaffen, um Schaden abzuwenden?

Zimmer: Filter irgendwelcher Art lassen sich in das Internet nur ganz schwer einbauen. Vor jeder nationalen Bestimmung kann sich ein irgendwo verbotener Inhalt auf einen Server im Ausland verziehen, wo das Verbot nicht gilt. Dazu noch etwas Tarnung und ein häufiger Namenswechsel, und schon ist der verbotene Inhalt wieder da. Natürlich müssen bestimmte Dinge, die realiter verboten sind, auch im Internet verboten sein und so gut herausgefiltert werden, wie es die Technik gerade erlaubt. Aber man darf sich keinen Illusionen hingeben, nützen wird es nicht viel. Das Knacken von Sperren ist ein Volkssport. Außerdem fällt jemandem wie mir das Umlernen schwer. Ein paar Generationen haben gegen die Zensur gekämpft, im Vertrauen darauf, dass die Menschen auch Worte und Bilder ertragen, deren reale Entsprechungen für sie unannehmbar wären. Es gibt einen Unterschied zwischen der realen und der vorgestellten und symbolisierten Welt. Ich wünsche nicht, dass die Zensurmentalität wieder um sich greift. Zu leicht trifft sie daneben.

literaturkritik.de: Eine Kultur wie die unsere definiert sich auch über die Überlieferungsformen des kulturellen Wissens. Besteht nicht die Gefahr, dass zukünftig "Wissen" unter dem Aktualitätsdruck der Neuen Medien verloren geht?

Zimmer: Bestimmt geht Wissen verloren, und das nicht nur unter dem Aktualitätsdruck der Neuen Medien. Auch analog kommuniziertes Wissen geht verloren und ging es schon immer. Je mehr Information produziert wird, umso mehr geht verloren. Es kommt darauf an, dass verlässliche, bewährte Institutionen zur systematischen Sichtung, Sammlung, Erschließung, Aufbewahrung und Erhaltung elektronischer Publikationen verpflichtet und mit den personellen und technischen Mitteln dazu ausgestattet werden. Das Internet erlebt heute jeder als die Unbeständigkeit selbst. Die elektronische Publikation wird sich erst durchsetzen, wenn verlässliche Archive da sind, denen man zutraut, dass sie ein Dokument auch in fünf oder zehn oder sogar hundert Jahren noch unverfälscht zur Verfügung stellen können.

literaturkritik.de: Glauben Sie, dass durch das Internet und die Neuen Medien eine Intellektualisierung der Weltbevölkerung erreicht werden kann? Daran anschließend: wie lässt sich Information "gerechter" verteilen?

Zimmer: Ach, "Intellektualisierung der Weltbevölkerung"... Erstens hört die Intellektualisierung auf jedem Fleck der Erde und auch im eigenen Land dort auf, wo der Intellekt aufhört. Dass die durchs Internet über das nächste kollektive Besäufnis mit anschließender Randale bestens informierten Skinheads die Vorhut einer intellektualisierten Weltbevölkerung bilden, möchte ich bezweifeln. Zweitens ist unsere Perspektive, aus der wir von der Intellektualisierung der Weltbevölkerung reden, die Luxusperspektive der Intelligenzlerschicht in der reichen entwickelten Welt. Ich weiß nicht, ob man den Millionen Reisbauern, die hinter einem Wasserbüffel her durch ihre Feldtümpel waten, einen Gefallen damit täte, sie für die Intellektualisierung der Weltbevölkerung durch das Internet anzuwerben. Obwohl ich weiß, dass auch Bauern und Hirten und Fischer in unentwickelten Weltgegenden von den Informationen des Internet profitieren können, etwa von genaueren Wetterprognosen. Das Internet wird das Wissen breiter verteilen, und die Habenden sollten dieser Entwicklung Vorschub leisten. Nach vielen Jahren stellt sich dann vielleicht heraus, dass der Intellektualitätspegel der Weltbevölkerung tatsächlich ein ganz klein wenig gestiegen ist. Aber ich fürchte, vollmundige Formeln wie "Intellektualisierung der Weltbevölkerung" verführen nur zu verstiegenen Illusionen.

literaturkritik.de: Wird die Pragmatik des Internets langfristig zu einer Neudefinition "geistigen Eigentums" kommen müssen? Oder welche Formen der Verwertung geistigen Eigentums, gerade auch im schöngeistig-künstlerischen Bereich, lassen sich hier denken?

Zimmer: Das Internet braucht Content, Inhalte, und zwar nicht nur Schaum, sondern substanzielle Inhalte. Die müssen geschaffen werden. Leute, die geistige Inhalte schaffen, heißen Urheber. Urheber sind Menschen und müssen von ihrer Arbeit leben können. Das Internet wird also die Grundregel aller Ökonomie nicht außer Kraft setzen, nämlich dass jede Leistung ihren Preis hat. Sonst nämlich wird die Leistung hier nicht mehr erbracht, sobald die erste, ehrenamtliche Begeisterung verflogen ist. Als Medium für substanziellen Content wird das Internet nur existieren, wenn es gelingt, dort das Urheberrecht durchzusetzen. Die Verwertungsformen müssen sich den technischen Möglichkeiten natürlich anpassen. Aber am Ende wird jemand für die Leistung bezahlen müssen, und der Begriff des "geistigen Eigentums" wird keineswegs obsolet, da kann man ihn noch so sehr um und um definieren.

literaturkritik.de: Wie ändern sich durch die Neuen Medien die Rezeptionsformen bei den "alten"?

Zimmer: Ich möchte hoffen, gar nicht. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die durch Fernsehen und Websurfen konditionierten Zappergenerationen die stete, konzentrierte Aufmerksamkeit, die etwa für die Lektüre eines durchdachten und durchformulierten längeren Buchs erforderlich ist, nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr so bereitwillig aufbringen werden.

literaturkritik.de: Welches sind, Ihrer Meinung nach, die zehn am häufigsten eingegebenen Suchbegriffe im Netz?

Zimmer: Wie ich uns kenne, würde ich tippen auf: sex, porno, xxx, free, warez, download, discount, hotel, kinoprogramm, fahrplan. Tatsächlich sind es (spaßeshalber habe ich nachgeschlagen mit MetaGer, unter meistgesucht+wörter+internet): sex, download, free, mp3, bilder, sms, porno, nackt, berlin und software.

literaturkritik.de: Wir danken Ihnen für das schöne Gespräch.

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Dieter E. Zimmer: Die Bibliothek der Zukunft. 300 Seiten Klappenbroschüre.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000.
330 Seiten,

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