Poeta doctus

In „Briefe an Poseidon“ erklärt Cees Nooteboom sogar einem Gott die Welt

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint zunächst ein höchst befremdliches Unterfangen zu sein, Briefe an einen Gott zu schreiben, noch dazu an einen, der zusammen mit einem ganzen Olymp vermeintlich ewiger Götter längst zu den mythologischen Akten gelegt wurde, glaubt doch wohl niemand mehr ernsthaft an ihre Existenz. Doch ist es offenbar gerade das, was Nooteboom so besonders an einer – obgleich noch dazu ja nur einseitigen – Korrespondenz mit Poseidon reizt: „Vielleicht findest du sie [die Briefe], vielleicht werden sie weggeweht. Ich habe sie geschrieben, weil ich dachte, es könnte sein, daß du noch etwas von der Welt wissen willst. […] Auf eine Antwort kam es mir nie an. Was ich mich immer gefragt habe: Wie war es, als niemand mehr zu euch betete, niemand mehr etwas erbat? Irgendwann muß es einen letzten gegeben haben. Wer war das? Wo? Habt ihr darüber gesprochen? Wart ihr eifersüchtig auf die Götter, die nach euch kamen? Lacht ihr jetzt, da auch sie allein gelassen werden?“

Doch sind bei weitem nicht alle der insgesamt 75 kurzen Prosatexte, von Nooteboom selbst als „kleine Wortsammlungen, die von meinem Leben berichten“ bezeichnet, auch an die Adresse des Meeresgottes gerichtet; 23 Texte schreibt der Autor an Poseidon, die restlichen richten sich an keinen spezifischen Adressaten – und sind denn auch eher Prosabetrachtungen als Briefe im eigentlichen Sinne. Was jedoch alle der „Wortsammlungen“ in „Briefe an Poseidon“ verbindet, ist, dass Nooteboom darin nichts weniger eröffnet als ein intellektuelles Universum – sein intellektuelles Universum: „Es werden Dinge sein, die ich lese, die ich sehe, die ich denke. Die ich mir ausdenke, an die ich mich erinnere, über die ich staune.“ Die Spannbreite der Themen, die Nooteboom beschäftigen, ist hierbei wahrlich bemerkenswert: Ausgelöst durch Zeitungsmeldungen, durch die Lektüre philosophischer, belletristischer oder auch naturwissenschaftlicher Werke moderner ebenso wie antiker Autoren, durch alte Fotos, Gemälde, Reliefs und Statuen, aber auch einfach nur durch einen Zoobesuch oder das Betrachten einer Agave im Garten seines Hauses in Spanien, entspinnt Nooteboom – oftmals ausgehend von einem zunächst trivial scheinenden Detail – Reflektionen über Leben und Sterben, Vergänglichkeit und Dauer, Glauben und Zweifel, Wissen und Vergessen.

Dass dabei nicht notwendigerweise alle Quintessenzen gleichermaßen tiefgehend oder erhellend sind – der Text „Schwester“ etwa endet mit der doch vergleichsweise abgeschmackten Sentenz „Letztendlich gibt es immer jemanden, der dich liebt“ –, ist sicherlich angesichts der Fülle tiefgehender Beobachtungen weder übermäßig schwerwiegend noch sonderlich befremdlich; dass Nooteboom allerdings auch vermeint, dem Gott dessen eigene Rolle im Mythos erklären zu müssen, ist da, wenigstens auf den ersten Blick, schon befremdlicher: „nachdem ich bei Homer noch einmal vom Kampf zwischen Aeneas und Achill gelesen hatte, eine Wahnsinnsgeschichte der Vernichtung, in der du eine Rolle spielst, die ich schon als Schüler verachtenswert fand. Achill, der Aeneas töten will, du, der du ihm das verwehrst. […] Diesmal griffst du zum Nebel.“

Es folgt eine ausführliche Zusammenfassung des Kampfes von Achill und Aeneas (inklusive der als unfair empfundenen göttlichen Intervention), bei der sich der geneigte Leser nun bewusst wird, dass, falls Nooteboom für seine Reflektionen überhaupt einen anderen Adressaten braucht als sich selbst, dieser Adressat keinesfalls der olympische Gott ist, sondern höchstens der sterbliche Leser, dem der Autor mit „Briefe an Poseidon“ nicht nur die Möglichkeit gibt, etwas über klassische Mythologie zu lernen: Zu fast jedem der Texte bietet der beigefügte Anhang Abbildungen und Zusatzinformationen, die den intellektuellen Hintergrund der Prosastücke erhellen. Manchmal übernimmt Nooteboom diese didaktische Aufgabe jedoch auch schon im Text selbst, etwa, wenn er über die Etymologie des Wortes ‚Axon’ doziert: „Dieses Geruchspartikel bewegt sich mit Hilfe eines Axons fort. Das Wort müßtest du kennen, es stammt aus deiner eigenen Sprache und bedeutet Achse. Eine fadenförmige, faserige Achse als Fortsatz einer Nervenzelle, die elektrische Impulse weiterleitet.“

Auf ähnliche Weise erfährt man, dass Nooteboom selbstverständlich nicht nur Dante, sondern auch Homer und Hesiod im Original liest, wie genau sich der lateinische Name des „Schweinegesäßwurms“ zusammensetzt und apropos eines Steins, der auf seinem Schreibtisch liegt, erhellt der Autor die Leserschaft auch noch en passant über die Erdzeitalter: „Wenn ich behaupten will, du habest diesen Stein gemacht, mußt du mindestens 350 Millionen Jahre alt sein, denn der Stein stammt aus dem Devon, dem vierten Abschnitt des primären geologischen Zeitalters.“

Das alles mag man – je nach Gusto – als faszinierend-informativ empfinden, oder aber auch als unbotmäßig belehrend. Gerade von der diesbezüglichen Reaktion allerdings wird es abhängen, ob man „Briefe an Poseidon“ mit Vergnügen wird lesen können: Ist man bereit, sich auf Nooteboom und sein eklektisches „Gedankenpurzeln“ (sein eigener Begriff) einzulassen und ihn somit als einen literarischen Cicerone zu akzeptieren, der offenbar nicht nur weitaus gebildeter ist als man selbst, sondern auch gerne und ausführlich darlegt, was er so alles weiß und kennt, dann wird die Lektüre des Bandes mit Sicherheit ein großer Gewinn und ausgesprochen lehrreich sein; erwartet man von einem Autor hingegen etwas weniger sprachlich-intellektuellen Narzissmus (ein Vorwurf, den Nooteboom selbst Thomas von Aquin, beziehungsweise einem Satz desselben gegenüber erhebt), dann wird man „Briefe an Poseidon“ wahrscheinlich schon bald enerviert zur Seite legen.

Titelbild

Cees Nooteboom: Briefe an Poseidon.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
227 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422946

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