Leben und Schreiben zwischen Stambul und Stromboli

Erster Band einer Werkausgabe Armin T. Wegners erschienen

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Armin T. Wegner (1886-1978) ist bisher bedauerlicherweise kaum noch mit seinem literarischen Werk, allenfalls mit seiner Biografie präsent, die so markant in die Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstrickt war. Sohn eines preußischen Beamten und einer engagierten Frauenrechtlerin und Pazifistin, promovierter Jurist und bereits als Schriftsteller hervorgetreten, erlebte und erlitt er das Grauen des modernen Krieges als deutscher Sanitätssoldat in Polen, Istanbul, an den Dardanellen, in Bagdad und wurde erschütterter Augenzeuge des Völkermordes an den Armeniern, den das mit dem deutschen verbündete osmanische Reich im Schatten des Kriegsgeschehens 1915/16 bestialisch betrieb.

Nach dem Krieg erhob Wegner vielfältig öffentlich Anklage in dieser Sache, engagierte sich auf der Seite der Revolutionäre und Pazifisten, unternahm weitere Orientreisen, etablierte sich in der Weimarer Republik als erfolgreicher Autor und lebte mit seiner Frau, der Schriftstellerin Lola Landau, zwischen Berlin und ihrem Landsitz in der Mark Brandenburg. Infolge eines ebenso redlichen wie naiven Appells an Adolf Hitler, die Judenverfolgung zu stoppen (wie naiv, ja geradezu verblendet, das kann man in Landaus Autobiografie „Vor dem Vergessen“ nachlesen), verhaftet, gefoltert, in KZ-Haft überführt, ging er 1934 ins Exil und lebte seit 1936 in Rom und Positano, ohne noch größere literarische Werke hervorzubringen.

Nach Kriegsende blieb er, der auf einem Schriftstellerkongress 1947 als verstorben betrauert wurde, lange ein Vergessener. 1974 und 1976 kamen dann zwei verdienstvolle Auswahlausgaben seiner Lyrik und Prosa im Peter Hammer Verlag heraus („Fällst du, umarme auch die Erde“; „Odyssee der Seele“), Forschungsarbeiten erschienen, und eine bis heute erfreulich aktive Armin T. Wegner-Gesellschaft, Auftraggeber dieser neuen Werkausgabe, wurde in Wuppertal, seinem Geburtsort, gegründet. Im Zusammenhang mit fortschreitender internationaler Aufarbeitung des Armenier-Genozids („Aghet“) trat auch die Stimme Wegners wieder mehr hervor. 2011 wurde sein Lichtbildvortrag „Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste“ philologisch mustergültig von Andreas Meier ediert, und ein instruktiver Sammelband mit Studien und Zeugnissen kam heraus, wie Meiers Edition und die neue Werkausgabe im Wallstein Verlag, der sich dieses Autors damit in beachtlicher Weise annimmt.

Nun liegt „Der Knabe Hüssein“ als Auftakt zu dieser Ausgabe vor, die sich deren Herausgeber, der Wuppertaler Komponist und Musiker Ulrich Klan, der sich um den Autor sehr verdient gemacht hat, mehrbändig, der Verlag, vorsichtiger, dreibändig denkt. Was bietet dieser erste Band, dessen Schutzumschlag ein malerisches Foto des spätosmanischen Istanbul (bei Wegner: „Stambul“) ziert und dessen Inhalt aus vier Teilen mit 55 Stücken mehr oder weniger kurzer Erzählprosa sowie einem Anhang besteht? Um es gleich vorweg zu sagen: Es sind überwiegend bereits in den genannten Auswahlbänden nachgedruckte Texte, und es sind sehr ungleichwertige Teile.

Das erste, ein unreifes, literarisch geringwertiges Büchlein „Gedichte in Prosa“ von 1910 (dessen Einleitung und erster Teil, ohne dass das vermerkt wäre, weggelassen wurde), ist eher überflüssig. Der Vierundzwanzigjährige zeigt sich hier als großes sprach- und fantasieverliebtes Kind. Der zweite Teil, sensible, anschauliche Reise- und Kriegsaufzeichnungen von 1915/16, unter dem Titel „Im Hause der Glückseligkeit“ 1920 erschienen (hier ist der Schlussteil ohne Hinweis weggelassen worden), ist stofflich und sprachlich zumindest interessant. Kriegsgeschehen und -folgen, die Schönheit der alten Metropole zwischen Europa und Orient, kreatürliche Solidarität mit Armen und Kranken, Eseln und Katzen – das mischt sich in bunter Folge. Herausragend der Text „Reise nach den Dardanellen“, dessen Dichte an ähnliche Abschnitte in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss erinnert.

Der dritte, mit Recht titelgebende Teil bildet mit den (diesmal vollständigen) „türkischen Novellen“ von 1921 den Höhe- und Schwerpunkt des Bandes. Er besteht aus vier gleich intensiv gestalteten Erzählungen aus der osmanischen Türkei im und vor dem Ersten Weltkrieg. Zwei porträtieren die ‚Täter als Opfer‘, eine ein ‚Opfer als Täter‘. Und die letzte bietet ein Vorspiel des Genozids: eine Episode aus den Armenier-Massakern von 1895/96, die damals europaweit folgenlose Empörung auslösten, heute jedoch, im Schatten des noch unvergleichlich Grauenvolleren, das zwanzig Jahre später geschah, fast ganz vergessen sind.

„Der Knabe Hüssein“ ist ein elfjähriger türkischer Bauernjunge, dessen Vater im Krieg erschlagen wurde. Er wird aus Hass und Rache innerhalb von drei Jahren, gestählt im Einsatz bei Gallipoli, zu einer mörderischen Kampfmaschine und ist zugleich ein zum Verlieben schöner Jüngling. Der ganze Text ist „die liebevollste, zärtlichste Massenmördergeschichte, die ich kenne“ (Volker Weidermann). – „Osman“: Ein glücklich jungverheirateter Bauer aus Westanatolien wird zum Kriegsdienst eingezogen, das heißt ins Unglück, das nun über ihn und seine Familie hereinbricht, ohne dass er seinen naiv-islamischen Glauben und seine Heimatliebe verliert. Er wird Zeuge aller Gräuel dieses Krieges, einschließlich des Armenier-Genozids. Eine Kriegsverletzung macht ihn zum Krüppel, seine Frau hat einen anderen Mann genommen, so wird er in Istanbul Bettler, der im Traum das schöne Paradies sieht – eine von Empathie erfüllte, tieftraurige Erzählung.

„Der Bankier“: Onigk Karribian, ein armenischer Handwerkersohn in Bagdad, ist aus Ehrgeiz, Hass, Machtgier und Vergeltungsdrang angesichts der osmanischen Untaten an seinem Volk zum reichen und skrupellosen Geschäftsmann, fanatischen politischen Widerstandskämpfer und heimlichen Spion geworden. Seine Pläne und Machenschaften enden jäh, als er im Rahmen des allgemeinen Genozid-Geschehens verhaftet und hingerichtet und seine Familie auf den Todesmarsch geschickt wird. Diese Erzählung verbindet die wenig authentische Wiedergabe einer Deportations-Atmosphäre im osmanischen Bagdad von 1915/16 mit der Wahl einer untypischen, nach sehr problematischen Stereotypen modellierten Hauptfigur.

„Der Sturm auf das Frauenbad“ – Massaker und Romanze: Aus der Pogrom-Serie von 1895/96 hat Wegner die Handlung in der ostanatolischen Stadt Erzurum im Spätherbst 1896 (richtig 1895) spielen lassen und, sich ziemlich flüchtig und willkürlich an seine Quellen anlehnend, vor allem wohl die Anklageschrift von Johannes Lepsius „Armenien und Europa“ (1897), mit ebenso treffenden wie grell-grausamen Strichen vergegenwärtigt. Inmitten der bestialischen, vom Provinzgouverneur Schakir Pascha (der Name vielleicht eine Kontamination aus denen des ebenso genannten Großwesirs bis 1895 und des jungtürkischen Genozid-Organisators Dr. Bahaeddin Schakir, der 1914/15 von Erzurum aus operierte) selbst organisierten und durchgeführten Gräueltaten an den armenischen Menschen der Stadt vollzieht sich eine menschliche Gegengeschichte: Ausgerechnet der Sohn dieses Schlächters, ein junger osmanischer Offizier mit französischer Bildung, der sich in eine schöne armenische Witwe verliebt hat, rettet diese vor Schändung und Mord und flieht mit ihr über Mardin Richtung Mossul, auf ein neues Leben hoffend.

Diese vier ‚türkischen Novellen‘ Wegners stellen eine bewundernswerte Leistung an interkultureller erzählerischer Darstellungskunst dar. Zugleich sind sie literarisierte Zeitzeugnisse eines mitfühlenden und -leidenden Herzens aus der ersten Epoche der Brutalitäten des frühen 20. Jahrhunderts. Dem tut nur wenig Abbruch, dass der Erzähler – wie Hüseyin Erdem nachgewiesen hat – ab und zu danebengreift, zum Beispiel wenn er wiederholt von muslimischen „Priestern“ spricht, und dass er sich nicht selten eurozentrisch herablassenden, ja rassistisch arroganten Vorurteilen und Stereotypen verhaftet zeigt – dem, was seit Edward W. Said Orientalismus genannt wird. (Der hierin besonders problematische Text „Türkische Leute“ aus „Im Hause der Glückseligkeit“ ist in die Ausgabe nicht aufgenommen worden.)

Der vierte Teil des Bandes bündelt sehr heterogene frühe und späte, überwiegend autobiografisch gefärbte Prosa. Darunter verstecken sich zwei besonders markante Stücke. Das eine ist der wertvollste Text des ganzen Bandes, die erschütternde Kurzgeschichte „Der Knabe Atam“ von 1932: noch einmal eine jetzt mit erzählerischer Reife und menschlicher Empathie dargebotene Episode aus dem Grauen des Armenier-Genozids, dem Wegners geplantes, in geringwertigen Fragmenten überliefertes, als Ganzes jedoch nicht zustande gekommenes Hauptwerk „Die Austreibung“ beziehungsweise „Schatten vor der Sonne“ gewidmet war. Im April 1915 werden die Armenier der als ‚armenische Festung‘ legendenhaften Stadt Seitun (Zeytun) im Taurusgebirge deportiert. Wegner erzählt ebenso anrührend wie lakonisch die exemplarische Geschichte vom Ende eines armenischen Winzers, Bienenzüchters und Schusters und seiner Familie. Sie fliehen, von den mörderischen türkischen Soldaten verfolgt, in die Berge und stürzen sich gemeinsam von einem Felsen in den Tod. Der fünfjährige Atam bleibt allein zurück.

Das andere markante Prosastück in diesem letzten Teil bildet zugleich sinnig den Abschluss des ganzen Bandes: „Zwiegespräch mit einem Toten“, nach 1957 entstanden und bisher unveröffentlicht. Es verfremdet auf abgründige Weise Trauma und Tragik des Schriftstellers Wegner: eine erzählerisch nur wenig distanzierte Selbstdarstellung, die ebenso gezielt wie gequält zwischen Selbstüberschätzung und Selbstentblößung, Selbstverleugnung und Selbstbewahrung hin- und herpendelt und deren schwarze, bittere Ironie ein ratloses Gegengewicht darstellt zu den eingestreuten hochgestochenen und hohlen Deutungsansätzen für das zeitgeschichtliche Maximalverbrechen, dessen Opfer auch der Autor geworden war.

Im Anhang des Bandes findet man Nützliches, unter anderem einen Lebenslauf des Autors, Publikationsnachweise (aber, wie gesagt, ohne Hinweise auf Kürzungen) und einen sensiblen Essay über Wegners Erzählungen von Volker Weidermann, der bereits 2008 in seinem „Buch der verbrannten Bücher“ auch diesen Autor gewürdigt hatte. Was man im Anhang leider nicht findet, sind Erläuterungen, die ein Leser aber oft dringend braucht: sowohl hinsichtlich der Einordnung der einzelnen Werke in die Kontexte von Leben, Schreiben, Zeitgeschichte als auch hinsichtlich mancher erklärungs- oder korrekturbedürftiger Stellen.

So sind zum Beispiel in der Erzählung „Der Sturm auf das Frauenbad“ die Lokalisierung und Datierung des Geschehens auf 1896 falsch. Die unter dem ‚blutigen Sultan‘ Abdülhamid verübten Massaker in und um Erzurum, von denen die Erzählung handelt, fanden am 30. Oktober 1895 statt. Und ein „Frauenbad“ wurde nicht in Erzurum, sondern (am 30. November 1895) in Kayseri gestürmt. Auch eine Passage in der Erzählung „Der Bankier“ über den 22. „Tamus“ (Wegner meint wohl den türkischen – nicht arabischen! – Namen „temmuz“ für den Monat Juli) im Jahre „1315 der Hedschra“ (falsch erläutert als 1899), an dem angeblich „auf Befehl des Sultans fast alle armenischen Männer in den Städten des Reiches getötet“ worden seien, ist sachlich und zeitlich völlig irreführend. (Die bereits grauenvoll großen Massaker vor dem Genozid von 1915 fanden 1894-96 und 1909 statt.)

Diese Beispiele ließen sich durch andere vermehren. Sie sollen nur zeigen, wie wertvoll kompetente Sacherläuterungen wären. Den weiteren Bänden dieser verdienstvollen Werkausgabe werden solche hoffentlich beigegeben werden. Der erste mit seinem Schwerpunkt auf drei Erzählungen um die Armenier-Massaker stößt heute vielleicht dadurch auf erhöhte Aufmerksamkeit, dass es mittlerweile auch viele historiografische und andere literarische Zeugnisse dieses Geschehens gibt. So hat kürzlich der angesehene liberale türkische Journalist Hasan Cemal ein beachtenswertes Buch „Ermeni Soykırımı“ („Der Armenier-Völkermord“) veröffentlicht (Istanbul 2012). Hasan Cemal ist Enkel jenes Cemal Pascha, der oberster Verantwortlicher genau der Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen war, die Wegner in seiner unvergesslichen Kurzgeschichte „Der Knabe Atam“ dargestellt hat.

Titelbild

Armin T. Wegner: Der Knabe Hüssein und andere Erzählungen.
Herausgegeben von Volker Weidermann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
311 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311046

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