Der Beginn der abendländischen Literatur

Ein höchst lesenswertes Buch über Homer von Thomas Alexander Szlezák

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Homer-Fachliteratur und in manchen Vorworten zu den Übersetzungen seiner Epen wird darauf hingewiesen, dass die Ilias und die Odyssee heute, wie vor fast 3.000 Jahren, eine lohnenswerte, spannende Lektüre sein können, wenn – das wird als Voraussetzung genannt – den Lesern das, was an den beiden Epen „fremd“ ist, erklärt wird. So schreibt der Marburger Gräzist Arbogast Schmitt von der „scheinbar widersprüchlichen Leseerfahrung“ bei der Lektüre Homers, von „einer sich schnell einstellenden Vertrautheit mit den Problemen der handelnden Personen und dem Gefühl […], mit einer Welt- und Menschendeutung konfrontiert zu werden, die wir nicht mehr verstehen und in keiner Weise mehr auf uns selbst anwenden können.“

Das Homer-Buch von Thomas A. Szlezák, der bis zu seiner Emeritierung als Professor für Griechische Philologie an der Universität in Tübingen lehrte, ist für alle Homer-Interessierten eine ausgezeichnete Einführung in das Werk des ersten großen Dichters der abendländischen Literatur. Es hilft, die „Fremdheit“ der Ilias und Odyssee abzubauen, und bereitet die wichtigen Aspekte der beiden Großwerke in einer Weise auf, die zu einem profunden Verständnis der Lektüre führt.

Szlezák will zeigen, dass „die großen Dichtungen früherer Epochen auch heute mit spontanem literarischen Genuß rezipiert werden können“. Damit sich dieses Lesevergnügen einstellt, ist es notwendig, die Ilias und die Odyssee aus ihrem philologisch besetzten Rahmen zu lösen und als eigenständige Kunstwerke, die aus sich heraus literarische Bedeutung haben, vor den Leser zu stellen. Der Autor weiß, dass das nur gelingt, wenn die Kluft, die „der zeitliche und mentalitätsgeschichtliche Abstand geschaffen haben“, überwunden wird.

So versucht er auf vielfältige Weise, die historische Distanz zu Homers Werken als den „ältesten erhaltenen Zeugen der Dichtkunst des westlichen Kulturkreises“ zu verringern. Mit großer Sensibilität und den bewährten philologischen Interpretationsmethoden geht er auf die Texte selbst ein. Er analysiert die „Subtilität“ Homer’scher Charakterdarstellung, macht „die Komplexität menschlicher Beziehungen“ in den beiden Groß-Epen deutlich und lenkt den Blick des Lesers auf die hohen sittlichen Werte in der Ilias und der Odyssee. Er verspricht, dass die beiden fast dreitausend Jahre alten Epen auf den Leser heute, wenn er die nötigen Informationen zum besseren Verständnis erhält, „frischer, jünger und leichter zugänglich wirken als manch ein bedeutendes Werk, das uns zeitlich weit näher steht.“

Szlezáks Homer-Buch nähert sich dem Ziel, ein umfassendes Verständnis des Inhalts, der Sprache, der Struktur und des Welt- und Menschenbildes der Ilias und der Odyssee zu vermitteln, in vier Kapiteln. Im ersten Teil fragt der Autor nach der Bedeutung Homers, erläutert in großen Schritten die Rezeptionsgeschichte der beiden Epen und geht auf die geschichtlichen Hintergründe der Handlung ein und auf das Wenige, das die Griechisch-Wissenschaft über den Menschen Homer weiß.

Ausführlich untersucht Szlezák die historischen Bezüge der Ilias-Handlung. Die Frage nach der geschichtlichen Wahrheit hinter der Fiktionalität hat in den letzten Jahrzehnten (und natürlich vorher) verschiedene Antworten erhalten. Am häufigsten wird ein Krieg zwischen den Griechen und Troja in der heutigen nordwestlichen Türkeiim 12. Jahrhundert vor Christus, wie manche Archäologen und Gräzisten meinen, – als Ausgangspunkt für die Sagen um Agamemnon und Priamos, Achill und Hektor, Menelaos und Paris, um Odysseus und all die anderen Homer-Helden angenommen. Raoul Schrott hat mit seinen Thesen eines großen Krieges um eine Burg in Kilikien an der syrisch-türkischen Grenze erst kürzlich (2008) Aufsehen erregt und gleichzeitig große ablehnende Kritik seiner Behauptungen, dort sei Homers umkämpfte Festung Ilios zu finden, hervorgerufen.

Szlezák geht auf Schrotts Ortsbestimmung nicht ein. Für ihn macht allerdings auch die Festlegung auf die Stadt Troja wenig Sinn, da eine solche Stadt aus der Vor-Homerzeit nicht bekannt sei. „Einen historischen Ort ‚Troja‘ hat es nie gegeben“, stellt er lapidar fest. „Was der Name der alten nicht-griechischen Siedlung, die man heute mit ‚Troia‘ gleichsetzt, in der Bronzezeit war, ist nicht bekannt.“ Dennoch bemüht sich Szlezák um eine Antwort auf die alte Frage nach dem „Troischen Krieg“. Er zeigt, wie die Sage um diesen Krieg mit großer Plausibilität auf lokale Auseinandersetzungen zwischen dem Stamm der Achaier und dem der Troier im nördlichen Mittelgriechenland zurückgeht und später, nach der Besiedlung Kleinasiens, auf die neuen Lokalitäten übertragen wurde.

Die Erläuterungen zum so genannten „historischen Kern“ der Ilias sind typisch für Szlezáks Argumentation auch bei anderen kontrovers diskutierten Aspekten und Sachverhalten. Seine Ausführungen sind klar, differenziert, wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und zeugen von einer Jahrzehnte langen intellektuellen Durchdringung der Homertexte. Souverän, auch in Hinblick auf seine eigenen Thesen, rückt er so manche Kontroversen um Homer zurecht und verweist eindringlich auf das, was Homer im Kern ausmacht: „Für die Ilias als Dichtung ist die Frage der Historizität des Troischen Krieges gänzlich irrelevant. Ob dieser Krieg ursprünglich eine unbedeutende Stammesfehde in Mittelgriechenland war oder eine welthistorische Auseinandersetzung zwischen Asien und Europa – Homer ist so oder so nicht der Chronist irgendwelcher realer Ereignisse, sondern der Schöpfer einer eigenen dichterischen Welt, in der alles ‚Reale‘ nur Hintergrund und Material für das Entstehenlassen von Sinn und Bedeutung im Bereich des Menschlichen sein kann.“

Die beiden mittleren Kapitel, die sich ausführlich mit der Ilias und der Odyssee beschäftigen, sind das Herzstück des Buches. Ausführliche Inhaltswiedergaben geben einen Überblick über die Epen und erleichtern die Orientierung in den circa sechszehntausend beziehungsweise zwölftausend Hexameter-Versen der Ilias und der Odyssee. Hilfreicher noch für den Leser sind aber die anderen Aspekte, mit denen sich Szlezák beschäftigt. Er analysiert die Form- und Gestaltungsmittel Homers, zum Beispiel die Klammertechnik in der Ilias, die Motivstruktur, die Charakterzeichnungen, die scheinbar sprunghaften und verschlungenen, in Wirklichkeit genau kalkulierten Handlungslinien in der Odyssee. Besonderen Raum nehmen die Interpretationen ausgesuchter Textstellen ein. Sie ermöglichen vor allem einen Einstieg in die Lektüre und erleichtern das Verständnis von Schlüsselstellen.

Ausführungen zum Weltbild und Menschenbild der beiden Epen schließen die Darstellungen in diesen Kapiteln jeweils ab. Szlezák untersucht dabei zum Beispiel das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern und stellt die Frage, ob die Helden Homers eigene Entscheidungsmöglichkeiten haben oder ganz vom Willen der Götter gelenkt werden. Für ihn wird die Entscheidungsfähigkeit des Helden durch das Eingreifen der Götter nicht aufgehoben. Denn die Götter geben den Menschen meist nur das ein, „was zuvor schon in ihren Gedanken erwogen worden war“. Ein allzu archaisches, psychologisch eindimensionales oder gar primitives Bild des Menschen bei Homer lässt Szlezák nicht gelten. „Auch wenn ein Gott eine Entscheidung initiiert […], ist doch die Entscheidung die des Menschen selbst.“

Allerdings sind für Szlezák die Helden in der Ilias viel weniger Individualisten als etwa Odysseus in dem jüngeren Homer-Epos. Die Ilias-Helden sind und bleiben ganz in die adelige Welt, in eine konventionelle Gesellschaft also, eingebunden und können und wollen sich daraus in keiner Situation befreien. In der Figur des Odysseus dagegen betritt ein anderer Menschentyp die zuweilen märchenhaft-bunte und abenteuerliche Welt der Homer-Dichtung, ein „Einzelkämpfer, der sich allein auf seinen überlegenen Intellekt verlassen kann“.

Für Szlezák liegt gerade in dieser Verschiedenheit der Heldendarstellung ein beweiskräftiges Argument für die Annahme, dass es sich bei Homer um zwei verschiedene Autoren gehandelt haben muss, dass der eine die Ilias um 700 vor Christus oder etwas später geschrieben hat, der andere die Odyssee als „Hommage an den Ilias-Dichter“ wiederum etwa dreißig Jahre danach. Szlezák allerdings ist bei solchen Festlegungen, die oft auf wenig gesicherten „Beweisen“ beruhen, vorsichtig und zurückhaltend.

Szlezáks große Stärke sind neben der Erläuterung des geschichtlichen und kulturellen Kontextes der Homer-Epen die Interpretation der Texte und die Hinweise zu deren geistesgeschichtlichen und kulturellen Bedeutung für die abendländische Literatur und darüber hinaus für den europäischen Kulturkreis überhaupt. Immer wieder betont er, dass die Bedeutung der Homertexte für die geistesgeschichtliche Entwicklung in Europa nicht überschätzt werden kann. Das gilt natürlich vor allem für die Ilias. „Kein anderes Werk hat auf die Literaturauffassung, Literaturgestaltung und Literaturtheorie anderer Epochen einen solchen Einfluss gehabt wie die Ilias auf die literarischen Traditionen Europas bis ins 19. Jahrhundert. In diesem Sinne kann man in der Ilias „die Geburt der abendländischen Dichtung“ sehen, in der Odyssee bereits den Beginn der von der Ilias bestimmten Tradition.“

Im letzten Kapitel schlägt Szlezák einen Bogen von Homer zum noch früher entstandenen Gilgamesch-Epos des altbabylonischen Kulturkreises, der die abendländische Literatur zwar indirekt beeinflusst, insgesamt aber viel weniger deutliche Spuren hinterlassen hat als Homers Werke. Gerade deshalb ist es interessant zu erkennen, welche Unterschiede und Ähnlichkeiten Szlezák, der sich in früheren Arbeiten auch mit dem Gilgamesch-Epos auseinandergesetzt hat, sieht und wie er diese in Hinblick auf Homer bewertet.

Für Szlezák steht fest, dass „in der griechischen Epik Motive, die sicher altorientalischen Ursprungs sind, in großer Anzahl anzutreffen sind“. Er listet akribisch eine lange Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem um 1200 vor Christus aufgeschriebenen Gilgamesch-Epos und der Ilias und der Odyssee auf: zum Beispiel die Freundschaft zwischen Achill und Patroklos wie zwischen Gilgamesch und Enkidu, die Abstammung der Helden Achill und Gilgamesch von einer göttlichen Mutter oder Odysseus’ märchenhafte Reise-Abenteuer, die an den Kampf der babylonischen Helden mit Chumbaba, dem Wächter des Zedernwaldes, erinnern.

Szlezák geht in seiner Vergleichs-Untersuchung jedoch einen Schritt weiter. Er zeigt in beispielhaften Analysen, wie diese so ähnlich erscheinenden Themen und Motive von Homer dichterisch anders als in der altorientalischen Vorlage gestaltet und für ein anderes Welt- und Menschenbild funktional gemacht werden. Darüber hinaus unterscheiden sich für Szlezák Homers Epen vom Gilgamesch-Epos auch in der Gattung: Die einen sind für ihn Heldenepen, die anderen gehören seiner Ansicht nach eher zur Gattung bestimmter „Lieder“. „Bei genauerer Betrachtung der Durchführung der vergleichbaren Motive und Konzeptionen in ihrem jeweiligen Kontext“, so fasst Szlezák seine Überlegungen zusammen, „erweisen sich […] die Unterschiede in den weitaus meisten Fällen nicht nur als zahlreicher, sondern auch als bedeutender für das Verständnis der Intention des Dichters als die Ähnlichkeiten.“

Es sind solche Analysen und Urteile, die Szlezáks Buch überaus lesenswert und für alle, die an alter griechischer Literatur und den Anfängen der abendländischen Literatur und Kultur interessiert sind, unverzichtbar machen. Der Autor öffnet und erschließt Wege hin zu Homer, vor allem verliert er nie den Blick auf das Eigentliche, den Text selbst, aus den Augen. Gerade am Vergleich mit dem Gilgamesch-Epos zeigt er, wie es letztlich allein darauf ankommt, die Ilias und die Odyssee selbst zu lesen und vom Text her, so weit wie möglich, zu verstehen. „Niemand sollte sich abhalten lassen, Homer auch ohne seine vorderasiatischen Wurzeln zu genießen. Niemand braucht zu befürchten, mangels Kenntnis dieser Wurzeln weniger kompetent zu sein für das Erfassen des Eigentlichen am doppelten Homer: der poetischen Schönheit seiner Bilder und Szenen, der erhellenden Kraft seiner Figurenkonstellationen und des Tiefsinns seiner Welt- und Daseinsdeutung.“ Und Szlezák fügt wie zur Bekräftigung hinzu: „Schlechte Dichter wären die Verfasser von Ilias und Odyssee gewesen, wenn sie es nicht vermocht hätten, ihre dichterischen Intentionen autark auszudrücken, ohne auf Deutungshilfe aus dem Orient angewiesen zu sein.“

Es wäre – eine kleine kritische Anmerkung – zu wünschen gewesen, dass ein kundiger Autor wie Szlezák seine Analyse und Interpretation der Ilias und Odyssee mit erläuternden Bemerkungen zu einigen vorliegenden Übersetzungen der Homer-Epen ergänzt hätte. Die Übersetzungen von Voß (1781 bzw. 1793) sind immer eine Lektüre wert, sprachgewaltig, wortstark und poetisch. Aber auch neuere Übertragungen von Wolfgang Schadewaldt bis Raoul Schrott sind Optionen für den Homer-Leser. Die Fülle an Möglichkeiten ist da manchmal verwirrend.

Das Buch ist – so oder so – ein großer Gewinn für alle Homer-Leser. Die übersichtlichen Darstellungen, die die Fachliteratur angemessen berücksichtigen, machen das Buch zu einem wertvollen Begleiter bei der Ilias- und Odyssee-Lektüre. Szlezáks Verdienst ist es, dass seine Darlegungen nicht wegführen von der Lektüre der Homertexte, sondern den Leser darauf neugierig machen und ihm das Rüstzeug an Wissen und Informationen bereitstellen, das er braucht, um die „alten“ Epen mit Verständnis und Vergnügen zu lesen.

Titelbild

Thomas Szlezák: Homer. oder Die Geburt der abendländischen Dichtung.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
254 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406637292

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch