Ein Haus und seine vielen Geschichten

Über Véronique Bizots erstaunlichen Roman „Eine Zukunft“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Geschichten trägt man mit sich herum? Welche Geheimnisse und nicht ausgesprochenen Begebenheiten lässt man lieber ruhen? Warum will man nicht an vor langer Zeit statt gefundene Erlebnisse rühren? Was bergen alte Räume und Gebäude, zumal wenn es sich um die Umgebung handelt, in der man aufgewachsen ist? Solcherlei Fragen wirft „Eine Zukunft“ auf, das zweite in deutscher Übersetzung vorliegende Buch der Französin Véronique Bizot.

Ein Brief seines Bruders Odd veranlasst Paul, einen überwiegend in Krisengebieten tätigen Brücken- und Staudammingenieur, in sein Elternhaus in der verschneiten Provinz zu fahren. Odd schrieb, er wolle für eine Weile weggehen, Paul solle doch bitte nach dem Haus und nach einem tropfenden Wasserhahn sehen. Was für eine Lappalie für einen mit Großprojekten Beschäftigten, doch dann kommt alles ganz anders. Denn die Erinnerungen an seine ungewöhnliche Familie drängen sich in dem verwahrlosten Haus förmlich auf. Paul inspiziert die vielen Räume, sucht nach Ess- und Trinkbarem und nach Brennmaterial, da zu allem Ungemach auch noch die Heizung streikt. Und so sitzt er im gelben Sessel am Kamin und denkt an seine drei Schwestern, seine zwei Brüder, seine Eltern. Die Mutter, eine Norwegerin, nahm ihre Töchter so oft es ging zum Reiten mit, was ihr zum Verhängnis wurde.

Ein tödlicher Reitunfall löste das Familiengefüge nahezu auf, der Vater war fortan kaum mehr zu sehen, verstrickte sich in dubiose und ruinöse Geschäfte, verschwand öfter für längere Zeit und brachte dann eine wohlhabende Amerikanerin mit, die ihren Reichtum als Macht- und Abgrenzungsinstrument einsetzte. Eine der Schwestern landete alsbald in einer Irrenanstalt. Die anderen beiden blieben noch lange im Elternhaus, bevor sie – wie man es bei Zwillingsschestern fast ein wenig erwarten kann – zu gleicher Zeit ihre Männer kennenlernten, die sie in einer Doppelhochzeit ehelichten. Erkältet wie er ist, kümmert Paul sich nicht um Äußerlichkeiten, träumt vor sich hin, schlürft Wein und Tütensuppen und päppelt sich mit Medikamenten mehr schlecht als recht auf, denkt zurück an seine Frau und die Hochzeit und an eine abenteuerliche und recht ausführlich geschilderte Episode in seinem Leben, als er im Dschungel Malaysias beinahe gestorben wäre.

Das klingt alles sehr verwirrend und vielschichtig, abschweifend und unübersichtlich, doch Véronique Bizot, die bereits mit ihrem deutschen Debüt „Meine Krönung“ ihre verblüffende Schreibökonomie demonstrierte, schildert all dies mit leichter Hand, immer ein wenig ironisch, nie schwer und deprimierend, trotzdem aber auch nie flapsig oder leichthin. Dass dies so perfekt lesbar ist, liegt ganz sicher auch an der Übersetzung von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz, die „Eine Zukunft“ zu einem großen Lesevergnügen machen.

Denn Paul bleibt nicht im Haus, verweilt nicht nur in Erinnerungen und der Vergangenheit, sondern macht sich auf ins nahe gelegene Dorf, wird von einem Bauern auf dem Traktor mitgenommen und geht mit diesem zu einer Beerdigung, widersetzt sich in der Kneipe den feindlichen Blicken und bezahlt die Schulden seines Zwillingsbruders, für den er offenbar gehalten wird. Da es in seinem Haus kein warmes Wasser gibt, geht er, allerdings ohne Badesachen, ins örtliche Schwimmbad, wo er einen Schwächeanfall erleidet und vom Bademeister mit Wasser und Schokolade erstversorgt wird – ja, dieses schmale Buch hat es in sich, Bizot hat die Gabe, mit wenigen Worten und Sätzen große Zusammenhänge anzudeuten, ohne alles und jedes ausformulieren zu müssen.

In „Meine Krönung“ hat sie dieses Verfahren schon einmal bravourös angewendet, hat das Leben eines alten Wissenschaftlers und seiner resoluten Haushälterin ausgebreitet, als wäre es Stoff für einen dicken Wälzer (tatsächlich hatte dieses überraschende Buch gerade einmal 128 Seiten). Beinahe wirkt dieses kluge Buch wie ein Märchen, mit all seinen bizarren Figuren und Orten, den verschlungenen Geschichten und dem verwunschenen Haus. Aber Véronique Bizot erdet ihren Text, gibt ihm realistische Elemente, die ihn als gegenwärtig identifizieren und weist mit all ihren Andeutungen weit über das bloß Erzählte hinaus. Mit „Eine Zukunft“ macht sie vor, wie unterhaltsam und unangestrengt gute Literatur ist.

Titelbild

Veronique Bizot: Eine Zukunft.
Übersetzt aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
145 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305110

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