Außerdogmatisches Philosophieren

Sammelrezension zu Marcel Mauss’ „Schriften zur Religionssoziologie“ und Jean-Luc Nancys „Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2“

Von Alina TimofteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alina Timofte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rezeptionsarbeit auf höchstem Niveau: die Mauss-Edition bei Suhrkamp

Die zahlreichen Auflagen in der Reihe „Wissenschaft“ und die Aufnahme in den „Verlag der Weltreligionen“ bei Suhrkamp verdeutlichen, dass die Übersetzung der religionssoziologischen Arbeit „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (1912) von Émile Durkheim ihre Wirkung für die deutsche Religionssoziologie und Religionswissenschaft bislang nicht eingebüßt hat. Der Erfolg war so groß, dass die Vorarbeiten und Folgestudien seines Neffen und Mitarbeiters, Marcel Mauss, aus dem Blick der Forscher und Herausgeber gerieten.

Dass die Rezeption des französischen Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss sehr selektiv verlaufen ist, zeigt sich an dem Impact seiner Kulturtheorie der Gabe aus der gleichnamigen Studie über die Form und Funktion des Austausches in den archaischen Gesellschaften. Damit erlangte Mauss allgemeine Berühmtheit und übt bis heute eine beinahe magische Anziehungskraft auf die Geisteswissenschaften aus. Darüber hinaus greifen die Theorien von beispielweise Claude Lévi-Strauss, George Bataille, Pierre Bourdieu oder Jacques Derrida in zentralen Punkten auf die Arbeiten von Marcel Mauss zurück. Dennoch blieb Mauss im deutschsprachigen Raum erstaunlicherweise lange weitgehend unbekannt.

Dem längst fälligen Unternehmen, eine schmerzliche Rezeptionslücke zu schließen, wird jetzt mit einer systematischen und sorgfältigen Suhrkamp-Edition Vorschub geleistet: Marcel Mauss’ „Schriften zur Religionssoziologie“, herausgegeben von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud. Versammelt sind hier Mauss’ zentrale religionssoziologische Studien zu den religiösen Ursprüngen des Strafrechts, über das Opfer, die Theorie der Magie, die Vielfalt religiöser Erfahrungen, das Gebet oder das Verhältnis von Ritual und Emotionen.

Eine gelungene Zusammenschließung von Text und Kommentar

Die Tatsache, dass alle hier versammelten Primärtexte (bis auf den magietheoretischen Beitrag) erstmals in deutscher Sprache vorliegen, macht die Hochleistung der Herausgeber noch lobenswerter. Die ‚Gefährten‘, die sie dem Leser und der Leserin mit auf den Weg geben – die Einleitung, die editorischen Vorbemerkungen, Nachwort, Personenregister, Bibliografien und so weiter –, sind eine allgemeinverständliche und durchaus kompetente Handreichung. Die Gefahr, den interessierten Laien zu entmutigen, wird dank der gelungenen Zusammenschließung von Text und Kommentar ausgeräumt.

In ihrer Ferne von jeder leserunfreundlichen Komplexitätsmaximierung scheinen mir die Herausgeber – wie sonst? – an Mauss’ Denken über den Betrieb der Wissenschaft geschult zu sein: Man müsse ja die Wissenschaft in ihrer „Nacktheit“ und „Einfachheit“ darstellen, hält Mauss in einer seiner hier edierten Buchbesprechungen fest.

In seiner berühmten „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“ ([1950], Fischer 1999) schreibt Lévi-Strauss, man könne ihn nur „unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf“ lesen, und zwar mit der Gewissheit, „bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zu sein“. Und in der Tat hat Mauss’ Werk eine solche Weitläufigkeit und eine solche Fülle an Theorien, Tatsachen und Argumentationen, die von solcher Genauigkeit und Verständigkeit geleitet sind, dass man die Begegnung mit seinen Texten jedes Mal und ganz gewiss als ein Fest des Geistes empfinden wird.

Aufgrund der mageren Rezeptionslage in Deutschland gibt die Einleitung der Herausgeber eine kurze allgemeine Schilderung von Mauss’ Leben und Werk, indem die sozialen, kognitiven und wirkungsgeschichtlichen Dimensionen seines Denkens hervorgehoben werden. Dank der chronologischen Betrachtung seiner Biografie und seines wissenschaftlichen Werdegangs wird unter anderem erkennbar, aus welchen Gründen die Religion zu einem der zentralen Untersuchungsfelder von Mauss wurde, und verdeutlicht zugleich die wandelnde Rolle der Religion in seinem Gesamtwerk. Es wird außerdem gezeigt, welche Position er in der Durkheim-Schule und deren wichtigstem Publikationsorgan – der „Année sociologique“ – sowie bei deren Konsolidierung nach Durkheims Tod einnahm.

Das Nachwort von Stephan Moebius steht in einem komplementären Verhältnis zu der Einleitung, indem es den Hintergrund und die innere Entwicklung des Werkes Mauss’, die Eigenständigkeit seiner Beschäftigungsfelder, seine zentralen religionssoziologischen Konzepte und Theorien und deren Rezeption in der Fachwelt ausführlicher in den Blick nimmt.

Durch alle Beitexte des Bandes zieht sich das konstante Interesse der Herausgeber hindurch, Mauss aus dem Schatten seines berühmten Onkels heraus treten zu lassen. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Durkheim und Mauss wird im Kontext ihrer wissenschaftlichen Zusammenarbeit als Mentor und Schüler vor Augen geführt; markiert werden insbesondere die verschiedenen Differenzlinien und Schnittstellen ihrer Forschungsperspektiven auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf die Religion im Speziellen.

„Nackte“ Wissenschaft oder: die Religion ohne Religion beforschen

Die insgesamt acht vorliegenden religionssoziologischen Texte behandeln jeweils neue interdisziplinäre Zugangsweisen sowohl für die damaligen als auch für die gegenwärtigen Forschungen, denn sie sind nicht nur für den Religionssoziologen oder Religionswissenschaftler von Interesse, sondern bilden insgesamt ein solides und reiches Instrumentarium von allgemein kulturtheoretischer Bedeutung.

Bei dem zweiten Beitrag des Bandes handelt es sich um eine Arbeit, die Émile Durkheim selbst mit Anregungen begleitet hat: „Essay über die Natur und die Funktionen des Opfers“ (1899, gemeinsam mit Henri Hubert). Dies wird spätestens in dem methodologischen Ansatz sichtbar, anhand einer vorläufigen Definition des Opfers die Mängel früherer Opfertheorien aufzuzeigen und diese zu korrigieren beziehungsweise vervollständigen. Im Gegensatz zu den in der Epoche bereits vorhandenen Studien zum Opfer von Edward Burnett Tylor, Robertson Smith oder James Frazer liegt der Punkt von Mauss’ und Huberts Betrachtung bei der sozialen und weniger religiösen Funktion des Opfers, denn das Opfer als Gabe bestehe nicht nur aus den Pflichten des Gebens, Nehmens und Erwiderns, sondern beim Opfern werde etwas zugleich sakral gemacht, „sakralisiert“. Damit sind wir bei Mauss’ „Lieblingsthema“: das Sakrale. Behauptet werden die universale Struktur des Sakralen beziehungsweise die Trennung zwischen dem Sakralen und dem Profanen, deren sozialer Ursprung, die Variation der „sakralisierten“ Objekte je nach Gesellschaft, die Äquivalenz zwischen dem Sakralen und dem Tabu sowie die Ambivalenz des Sakralen als heilig/verflucht, rein/unrein etc. (bereits einige Jahre vor Durkheim, wie wir aus dem Nachwort erfahren).

Der ideale wissenschaftliche Rezensent?

Es ist bemerkenswert, dass einige der für die Religionssoziologie von Marcel Mauss und der Durkheim-Schule zentralen Begriffe, Definitionen und Denkfiguren in dem ersten und dem fünften Beitrag des Bandes („Die Religion und die Ursprünge des Strafrechts nach einem kürzlich erschienen Buch“, 1896, beziehungsweise „Über das Buch von William James und einige weitere Studien über dieselben Themen“, 1904), also in zwei (recht ausführlichen) Rezensionen, enthalten sind. Diese Buchbesprechungen sind was man ‚erwidernde und instruktive Rezensionen‘ nennen könnte – leider eine immer seltenere Erscheinung im wissenschaftlichen Rezensionswesen heute.

Die Verschwisterung von Magie und Religion und ihre soziale Prägung

Während Durkheims Studie über die elementaren Formen religiöser Erfahrung die Religion in die Nähe der Wissenschaft rückt, weil die Religion eine erste Kategorisierung der Dinge im erkenntnistheoretischen Sinne schaffe, und die Magie abwertet, weil sie eine nutzensuchende „Perversion der Religion“ sei, die sich auf die sakralen Dinge allein aufgrund individueller Interessen beziehe und keine solidarische, ja „vergemeinschaftende“ Funktion habe, so gibt der vierte Beitrag des Bandes einen anders polarisierten „Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie“ ab. Das Duett Hubert-Mauss sieht bei der Magie wie bei der Religion mechanische und orale Riten in einem System eng miteinander verbunden, denn „[w]ährend jedoch die Religion durch ihre intellektuellen Elemente zur Metaphysik neigt, wendet sich die Magie, die wir als mehr vom Konkreten gefesselt geschildert haben, der Naturerkenntnis zu.“ Eine wichtige Anzahl von Elementen wird ans Licht gebracht, die der Religion und der Magie gemeinsam sind, und wird auch belegt, dass sie die gleichen mentalen Mechanismen in Gang setzen. Neben dem Begriff des Sakralen avanciert in ihrer Theorie der Magie der von einem melanesisch-polynesischen Namen entlehnten Begriff des mana zu einer Art Grundkategorie des kollektiven Denkens, die nach Mauss „eine Klassifikation der Dinge anordnet, die einen trennt, die anderen vereint, und Linien ihres Einflusses aufeinander festlegt oder Schranken der Isolierung errichtet.“ Die soziale Prägung der Phänomene Religion und Magie bestärken sie durch individualpsychologische Argumente, denn die eigentlichen Wurzeln der Magie wie insgesamt der religiösen Deutungsmuster „affektive kollektive Zustände“ (états affectifs) seien, die aus der Mischung von individuellen und kollektiven Gefühlen resultieren.

Von Gefühlen und ihrem verpflichtenden, nichtspontanen und kollektiven Charakter handelt der kurze jedoch substantielle Aufsatz „Der obligatorische Ausdruck von Gefühlen (australische orale Bestattungsrituale)“ aus dem Jahr 1921. Anscheinend rein psychologische und physiologische Phänomene werden in den Bereich der Religionssoziologie überführt und in Beziehung zu den sozialen Konventionen gesetzt.

Ein Torso der Religionssoziologie: Mauss’ Studie über das Gebet

Ebenfalls eine Form des oralen Ritus behandelt Mauss’ unvollendete Dissertation „Das Gebet“ (1909). Auch hier spielen die Bräuche der australischen Aborigenes als elementare Form eine fundamentale Rolle. Trotz des unabgeschlossenen Charakters dieser Arbeit handelt es sich um eine thematisch spannende und methodologisch innovative Arbeit. Schon die vorläufige Definition des Gebets am Anfang der Studie („ein oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht“) verrät Mauss’ Bemühung auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und anders als in den zeitgenössischen philosophischen und theologischen Arbeiten zum Gebet eine von vornherein christlich gefärbte Terminologie zu vermeiden.

Wenn auch der einzig ausgearbeitete Teil das Gebet und seine Formierung in den elementaren Religionen zum Hauptuntersuchungsgegenstand macht, bleibt Mauss nicht bei der Beschreibung stehen, denn er unternimmt auch eine substantielle Historisierung des Gebets und sieht darin ein Indikator für zwei religionssoziologisch relevante Tendenzen moderner Gesellschaften: die Individualisierung und die Spiritualisierung. Waren nämlich die Riten, so Mauss, das Gebet eingeschlossen, anfangs kollektiver und mechanischer Natur, standardisiert und fast ausschließlich aus sinnlich wahrnehmbaren Bildern aufgebaut, so neigten sie im Laufe ihrer Geschichte dazu, „dem Bewusstsein einen immer größeren Platz einzuräumen“, sie seien also individueller und geistiger geworden, die Riten seien „mehr Haltungen der Seele als Haltungen des Körpers geworden.“

Mauss’ Ziel ist es, den kollektiven und sozialen Charakter des Gebets aufzuzeigen, daher belässt er es nicht bei der Theorie der Individualisierung und zeigt, dass auch die „innerlichste“ Form des Gebets niemals frei vom sozialen Kontext und dessen Einfluss ist: Der Betende sei in einer Tradition eingebunden und einem gewissen Formalismus und religiösen Autoritäten unterworfen. Das Gebet als ein Ritual der wirkungsorientierten Wortzusammensetzung im Hinblick auf die sakralen Dinge oder Wesen sei nach Mauss ein anschauliches Beispiel für eine gewisse Form des sozialen Handelns: Der Betende bedient sich einer Sprache, die er selbst nicht erfunden hat, um auf die Mächte einzuwirken oder mit ihnen zu kommunizieren, in Verbindung zu treten; hinter dem individuellen Gebet stehe das gesellschaftlich vermittelte und kollektive Gebet.

Wie auch immer geartet, geistig oder formelhaft-körperlich, – oder am inneren oder am äußeren logos gebunden – das Gebet ist nach Mauss immer eine „Handlung“, „eine Bewegung“, „eine Verausgabung an körperlicher und seelischer Energie, um bestimmte Wirkungen zu erzielen“. Mauss’ Augenmerk gilt weniger den körperlichen rituellen Ausdrücken, sondern vielmehr der engen Verbindung zwischen Denken, Sprechen und Handeln im religiösen Ritus der Anbetung.

Die Anbetung ist eine Synapse: Jean-Luc Nancy dekonstruiert das Christentum fort

Das Diktum „Die Sichtweise erzeugt das Objekt“ (frei nach Ferdinand de Saussure) findet auf bemerkenswerte Weise bei einem der bedeutendsten Denker der Gegenwart nochmals seine Bestätigung: dem Philosophen Jean-Luc Nancy.

Mit „Die Anbetung“ legt Nancy den zweiten Band einer „Dekonstruktion des Christentums“ vor (Vgl. die Rezension zum ersten Band von Daniel Weidner in Literaturkritik.de, 07/2009). Während der erste Band den selbstdestruktiven Charakter des Christentums in einer Art postmetaphysischer Phänomenologie freizulegen versuchte, behandelt der zweite Band die Strukturen, die der „erschütternden Geste“ der Anbetung zugrunde liegen, der Nancy sich in all ihren Facetten, in der Kunst, der Literatur, der Religion und schließlich in der Psychoanalyse annähert. Nicht das Was, sondern das Wie der Anbetung sei das Ziel seiner Betrachtungen, denn seine Arbeit erkunde nicht „die Möglichkeiten einer ,Theorie‘ der Anbetung, sondern durchaus die einer Praxis. Diese Praxis trägt einen unerwarteten Namen: das Denken. […] Das Denken ist eine Bewegung der Körper: Es beginnt in dieser nervösen Falte des Körpers, die ihn dem Unendlichen eines Sinnes aussetzt, das heißt durch die Affizierung durch die anderen Körper.“

Anders als Mauss’ Thesen zum oralen Ritus des Gebets (im französischen Original „la prière“) holt Nancys philosophischer Text über die Anbetung (im französischen Original „l’adoration“) mit breiten Schritten aus, denn ihm zufolge sei es „weder möglich noch wünschenswert, über die Anbetung eine geordnete, organisierte Rede zu halten“. Daher bekennt sich Nancy, gleich zu Beginn seiner Essaysammlung, zu einer literarisch-philosophischen Gattung, das ist die Meditation (die ironischerweise auch eine spezifische frühzeitliche Frömmigkeitspraxis bezeichnet). Das mag vielleicht erklären, warum eine rigorose Argumentation fehlt und warum die alles andere als leichte Lektüre oft im Kreis führt. Mit Mauss teilt Nancy die Weitläufigkeit seiner Denkfiguren, aber nicht ihre Zugänglichkeit und Organisiertheit, was sich möglicherweise dadurch erklären lässt, dass man Nancys Arbeit nicht als disputatio, als Abhandlung mit Argumenten für und wider liest, sondern dass sie sich als meditatio für eine aufgeschriebene gedankliche Betrachtung mit philosophischem Anspruch anbietet.

Die feinen Unterschiede

Der Textkörper ist eine Auseinanderfaltung des anfänglichen Zitats „Die Form des erwachenden Geistes ist die Verehrung“ (aus Ludwig Wittgensteins „Bemerkungen über Frazers ,The Golden Bough‘“). Ist Nancys Buch auf eine subtile Weise der Versuch einer Annäherung zu religiösen Inhalten durch die Laisierung derselben oder gar das diskrete Unternehmen, eine neue Theologie zu errichten? Nichts von alledem. Dekonstruieren heißt schon wieder nicht destruieren und für den Philosophen Nancy heißt es umso weniger, den christlichen Gott durch die Vernunft des Atheisten oder durch den Gott der Aufklärung zu substituieren.

Nancys Dekonstruktion des Christentums unterscheidet sich von einer bloßen Kritik. Es ist die Frage, ob der Atheismus der Antipode der Religion ist, oder ob nicht etwa die christliche Religion eine selbstdekonstruktive Geste in sich verbirgt und mitschleppt. Anders gesagt: Dekonstruktion ist nichts, was Nancy der christlichen Religion antut, sondern das, was sich das Christentum schon längst angetan hat. Entlang seiner Lektüre philosophischer und religiöser Texte analysiert Nancy konsequent den so genannten „Atheismusvektor“ des Christentums an der Vermenschlichung Jesus Christi, an dem Herunterzug der Transzendenz ins messbare, vergleichbare, wägbare Diesseits, kurzum: an dem Vergessen des Inkommensurablen.

„Unsere Zeit ist die Zeit einer Enteignung.“

Nancys heroischer Versuch besteht darin, den Sinn der Welt aus den tranzendentalen Bedingungen unserer Existenz wegzudenken, eine atheistische Welt sei eine Welt, so Nancy, in der der Sinn nicht mehr in einem Anderswo haftet: sondern an dem bloßen In-der-Welt-Sein als solches. Die Welt hat keinen Sinn, sie ist der Sinn, schreibt Nancy, und diese nackte, ‚sinnenteignete‘ Existenz bedeute, dass der Mensch dem Menschen als in Hier ruhendem Sinn ausgesetzt sei: „Nicht mehr den Göttern und auch nicht mehr der Wissenschaft anvertraut, findet er in sich sein Vertrauen nicht. Er lernt, dass er sich anders (an) vertrauen muss. Dass er sich anderswo oder anderen vertrauen muss. […] Doch für jede Art von Anderswo, das auf die Wahrheit hin öffnen könnte, hat der Mensch nur Namen, die außer Gebrauch sind: „Götter“ oder „Gott“, „Mysterium“, „Jenseits“, „Tao“, „Nirwana“, „Trunkenheit“, „Ekstase“, und auch das „Sehertum“ Rimbauds, jenes, das er selbst (Rimbaud, der Mensch…) aus dem Gebrauch genommen hat. In Wahrheit sind nicht diese Namen allein aus dem Gebrauch gekommen. Alle Namen sind in diesem Zustand. Unsere Zeit verschiebt oder zerlegt ganze Bedeutungsketten. Man denke bloß an „Mensch“, „Geschichte2, „Natur“, „Recht“, „Wissenschaft“, „Liebe“, „Kunst“ und wie viele andere noch. Wir sind in einer Bedeutungsschwebe.“

„Adoratio“ versus „addictio“

Die Anbetung in der Konzeption Jean-Luc Nancys gewinnt an Konturen durch die etymologisierende Kontrastierung zur Sucht. An der Reibung zwischen den lateinischen Verben ad-dicere (primär „eine Aussage bekräftigen“, später „sich einer Sache hingeben“, „sich verpflichten“, „sich unterwerfen“) und ad-orare („anreden“, „verehren“, „anbeten“) arbeitet Nancy den Unterschied zwischen „Sucht“ und „Anbetung“ heraus.

Die Sucht (addictio) ist nach Nancy das besondere Merkmal zeitgenössischer Gesellschaft, denn keine andere Kultur habe eine derartige Ausdehnung eines Zusammenhangs von teilweise pathologischen Suchtphänomenen gekannt: von schweren oder leichten Drogensüchten, bis zur Sucht nach Essen oder nach seiner Verweigerung, zur Sucht nach Videospielen und nach Bildschirmen überhaupt, zur Sucht nach Bildern und Informationen, nach Reisen, Sonnenbräunen und Stränden. Gleich was ihr Gegenstand und ihre Natur ist, hält Nancy fest, impliziert die Sucht einen Bezug zu einer berührbaren Präsenz (présence tangible): ein Idol, eine Sache, eine Substanz, ein Wert oder ein Äquivalent (= das Geld), die dem Süchtigen das Versprechen ‚künstlicher Paradiese‘ entgegenhalten. Die Sucht tritt auf die Stelle und sperrt sich im eigenen Kreis ein.

Die Anbetung (adoratio) bezeichnet hingegen einen Bezug zu einer Präsenz, die sich nicht „hier“ hereinbringen lässt, sondern die vielmehr als wesentlich „anderswo“, das „Hier“ öffnend erkannt und bejaht werden muss: „Es ist nicht die Präsenz von etwas, sondern die Präsenz der Öffnung“. Die Anbetung kontrastiert also vor allem mit der Reduktion, sie ist in der Anrede die Geste der Anerkennung, und der Bejahung, sie ist das gegenseitige Verweisen aufeinander, sie ist der erwachende Geist als Sprache. Die ersten Worte der Menschheit waren Worte der bewundernden Verehrung, der Anbetung, die ersten Schreie des Neugeborenen sind das „Bersten“ ins Leben, in die Identität und Differenz, in das Außen und Innen.

„Die Gabe ohne Geber“

Mit Passagen wie diesen: „Die Gabe der Welt heischt die Verehrung. Sie lädt zur Anbetung ein, hält zur Anbetung an, weckt sie. Aber mehr noch, eben diese Gabe eröffnet selbst die Möglichkeit – wenn nicht die Notwendigkeit – der Anbetung. Nicht, dass sie verpflichtet, wie ein Geber den Empfänger der Gabe verpflichten kann. Sondern diese Gabe ohne Geber, diese Gabe an sich, die einfach dem Ereignis der Welt gleich ist, ist bereits aus sich selbst heraus eine Geste der Anbetung“ lässt sich eine indirekte gedankliche Mauss-Filiation – vermutlich über Jacques Derrida und Georges Bataille – erahnen.

„Ein Buch für Alle und Keinen“

Die Dekonstruktion des Christentums anhand der Anbetung vermag ebenso befremdend wie Friedrich Nietzsches Polemik gegen Paulus erscheinen. Viele Passagen dieses Buches werden auf manch Gläubigen und Betenden unbehaglich, ja alarmierend wirken. Um nur einige zu nennen: „Der christliche ‚Gott‘ ist atheistisch“ oder „Das Christentum hat sich beeilt, eine Kirche zu bauen – sich als Kirche zu entwerfen“, oder: „Was ich über das Christentum sage, beschert ihm weder ein Privileg noch irgendeinen besonderen Rang. Wollte man ihm noch einen solchen zuweisen, hätte sie den Rang der am wenigsten privilegierten Religion. Denn ihr gelingt es am wenigsten und für sie ist es am schwierigsten, die eigentlich religiöse Energie zu behalten“ oder „Die Anbetung ist reine Bewegung, bloßer Trieb, Zielen ohne Objekt“ und so weiter. Ebenfalls provokativ mag erscheinen, dass Nancy über das Christentum in der Vergangenheitsform spricht. Gleichzeitig werden manche Leser Nancys Bemühen um ein außerdogmatisches Philosophieren empfinden, das teils auf Distanz teils jedoch in die Nähe zum Christentum geht. Nancy löst das Christentum weder in Mystik noch in Ethik auf, sondern verbindet beides miteinander ins Spiel. Was auch immer der erste Eindruck sein mag, man sollte die Schwingungen von Nancys anspruchsvollem Text nicht dämpfen, denn es ist ein wichtiges und notwendiges Buch.

Hohe Übersetzungskunst

Die hohe Leistung der Übersetzung und des Übertragens wird bei Rezensionen leider oft außer Acht gelassen. Spätestens an dieser Stelle sollte die herausragende Übersetzungsarbeit von Eva Moldenhauer und Esther von der Osten in den Vordergrund rücken.

Zahlreiche französische Dichter und Denker fanden durch Eva Moldenhauers Übersetzungen eine große Leserschaft im deutschsprachigen Raum. Ihre Bibliografie reicht von Literatur über Philosophie bis hin zur Anthropologie, dazu gehören Autoren wie Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Claude Lévi-Strauss, Émile Durkheim, Gilles Deleuze und Marcel Mauss. Die preisgekrönte Übersetzerin überträgt die bisher noch nicht auf Deutsch vorliegenden religionssoziologischen Texte von Marcel Mauss mit beeindruckender kulturwissenschaftlicher Sachkenntnis.

Die Historikerin und Komparatistin Esther von der Osten brachte meist philosophische Texte von Jean-François Lyotard, Hèléne Cixous, Simone Weil und neuestens von Jean-Luc Nancy an das deutschsprachige Lesepublikum. In ihrer Übersetzung von Nancys Büchern offenbart sich der metaphorische und aphoristische Reichtum des Originals. Wer das oftmals sperrige und schwierige französische Original kennt, muss die um Klarheit und Deutlichkeit bemühte Leistung mit Übersetzungsvirtuosität gleichsetzen.

Titelbild

Jean-Luc Nancy: Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2.
Übersetzt aus dem Französischen von Esther von der Osten.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012.
160 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783037341810

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marcel Mauss: Schriften zur Religionssoziologie.
Herausgegeben und eingeleitet von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer und Henning Ritter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
697 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296325

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