Vertraut werden mit dem Vergangenen in der eigenen Kultur

Ein voluminöser Band versammelt eindrucksvolle Arbeiten Michael Titzmanns zur Goethezeit

Von Jonas ReinartzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Reinartz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fällt das Schlagwort „Literarische Anthropologie“ im Bezug auf die Neuere deutsche Literaturwissenschaft, so gibt es diverse Namen, die dem Interessierten rasch in den Sinn kommen – etwa Hans-Jürgen Schings („Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts“), sein Schüler Alexander Košenina („Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert“), Nicolas Pethes („Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts“), Harald Neumeyer („Anomalien, Autonomien und das Unbewusste. Selbstmord in Wissenschaft und Literatur von 1700 bis 1800“) oder Roland Borgards („Poetik des Schmerzes: Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner“), um nur einige renommierte Forscher in diesem Bereich zu nennen.

Würde man das thematische Feld noch etwas weiter fassen und ginge vom Bereich „Literatur und Wissen“ aus, so würde die Liste an bemerkenswerten Literaturwissenschaftlern und ihren Arbeiten um einiges länger. Ein Beleg für dieses Interesse – insbesondere die „Fallgeschichte“ rückte in den letzten Jahren stark in den Fokus – ist zweifellos „Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch“, für April 2013 geplant und herausgegeben von Pethes, Neumeyer, Borgards und Yvonne Wübben. Michael Titzmann, unter anderem Autor von „Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation“ (1977) und emeritierter Professor für „Neuere Deutsche Literaturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Literaturtheorie“ in Passau, ist jemand, der Spezialisten bekannt sein dürfte, in punkto Bekanntheit jedoch ein wenig hinter den Koryphäen zurücksteht. Daher ist es erfreulich, dass nun ein Sammelband vorliegt, der 13 Aufsätze aus einem Zeitraum von fast 30 Jahren bietet und ihm so möglicherweise einen neuen (studentischen) Leserkreis erschließt. Es entfaltet sich eine beeindruckende Summe von Titzmanns äußerst präziser Arbeit. Seine betont nüchterne Herangehensweise mag eventuell Einsteiger abschrecken, doch es bietet sich hier eine wahre Fundgrube, vor allem in Hinblick auf herangezogene Primärquellen.

Titzmann widmet sich dabei gängigen Themen der Goethezeit: Okkultismus, Geheimbund-Romanen, Inzest-Motivik, pornografischer Literatur, Affekten oder Wielands Staatsromanen etwa. Es geht ihm dabei, wie die äußerst lesenswerte Einleitung der Herausgeber präzise formuliert, darum, den „wissensgenerierende[n], -stabilisierende[n], -transformierende[n], potentiell auch wissenspopularisierende[n] Beitrag“ der Literatur zu erhellen. Dementsprechend sind seine jeweiligen Textcorpora von gewaltigem Umfang, was sich auch in der Bibliografie am Ende des Bandes niederschlägt, die sämtliche Primärquellen verzeichnet. Hinsichtlich der literarischen Texte sind dies annähernd 15 Seiten, knapp 10 davon listen theoretische Abhandlungen auf. Darunter sind auch etliche, regelrecht vergessene Quellen, so dass sich diese Aufzählung auch als ausgezeichnete Inspiration für eigene Arbeiten verwenden lässt. Gerade Einsteiger, die sich in eine bestimmte Thematik einarbeiten möchten, sollten hier fündig werden.

Was sogleich auffällt, ist der oft überdurchschnittliche Umfang der Beiträge. Dieser ist jedoch stets gerechtfertigt, denn Titzmann geht äußerst umsichtig vor, so dass etwa ein Leser, der keinerlei Vorkenntnisse über den Geheimbundroman besitzt, nach der Lektüre von „Strukturen und Rituale von Geheimbünden in der Literatur um 1800 und ihre Transformation in Goethes ,Wilhelm Meisters Lehrjahre’“ auf die bestmögliche Weise informiert und auch die „Lehrjahre“ bei einer Relektüre deutlich anders wahrnehmen wird. Die Nähe des oftmals nur scheinbar trivialen Genres zu „Entwicklungs-/Bildungsgeschichten“ wird äußerst nachvollziehbar entfaltet.

Die Belesenheit des Verfassers beweist sich exemplarisch in seinem Beitrag über Johann Heinrich Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde“, in der er mit beeindruckender Souveränität die okkulten Diskussionen der Goethezeit aufrollt. In anderen Beiträgen, etwa in jenem über die Komplementarität pornografischer Literatur und aufklärerischer Philosophie, zeigt sich vor allem eine umfassende Kenntnis der französischen Geisteswelt. Bisweilen scheint zudem eine gewisse Verschmitzheit durch, die geschickt platziert wirkt.

Bei allem Lob: Im Vergleich etwa mit dem grandiosen sprachlichen Stil eines Schings oder demjenigen seiner Schüler fallen Titzmanns Defizite ins Auge. Die Präferenz für zahlreiche Unterpunkte, Abkürzungen (etwa „GZ“ für Goethezeit) und bisweilen sogar Funktionsgraphen hat einen gewissen Preis. Nun wäre es gewiss als unangemessen zu bezeichnen, für die Behandlung „schöner Literatur“ einen dementsprechenden sprachlichen Gestus zu verlangen, doch Tietzmann übertreibt es mit seinem Hang zur Knappheit und Präzision gelegentlich ein wenig, was eventuell erklären könnte, warum ihm leider nicht die Bekanntheit beschieden ist, die er im Grunde verdient. Seine Herangehensweise ist natürlich auch forschungsgeschichtlich einzuordnen, was diesen Kritikpunkt in gewisser Weise zu relativieren vermag, doch letztlich wiegt er auch nicht allzu schwer, denn den fundierten Ergebnissen tut dies freilich keinen Abbruch. In diesem Sinne kann diese repräsentative Aufsatzsammlung sehr empfohlen werden.

Titelbild

Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur und Wissensgeschichte.
De Gruyter, Berlin 2011.
567 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783484351196

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch