Unterwegs mit sich selbst

Über Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoph Ransmayr hat wieder einen Roman geschrieben. Einen rastlosen Roman, einen Reiseroman, ein Episodenbuch. Er reiht seine Geschichten aneinander, und alle Geschichten beginnen mit den Worten „Ich sah…“. Was er denn gesehen hat, beschreibt er in ungefähr siebzig Episoden. „Ungefähr“ deshalb, weil man sich als Leser bei der einen oder anderen Episode nicht mitgenommen fühlt, man nicht plötzlich an einem anderen Ort ist, sondern noch bei den Worten der vorherigen Erzählung verweilt, die Seiten beim Lesen verträumt. Denn man ist in Gedanken noch auf einem Flohmarkt in Warschau, bei den Klängen eines Klaviers oder bei der Beobachtung eines merkwürdigen Hirtenhundes. Und von genauso vielen Orten wie Geschichten wird erzählt. Geschichten, die zwar hermetisch in sich geschlossen zu sein scheinen, trotzdem aber wie kleine Prosaminiaturen, die nur aus sich heraus strahlen, Poesie um sich verbreiten. Und es wollen gar nicht Geschichten von einem „ängstlichen Mann“ sein, wie der Titel des Romans suggeriert. Was versucht Ransmayr mit diesem Buch?

Zumindest lässt er – wie in einem Experiment – poetische Sprache auf journalistische Beschreibungen treffen. Er poetisiert den reisenden Journalisten, er bereichert den Poeten um die Erfahrung der Fremde, um neue Schauplätze und um die Fähigkeit, Poesie an vielen Orten aufzuspüren, zu beobachten und zu beschreiben. Dabei ist der Titel des Buches durchaus mehrdeutig zu verstehen. Das Buch ist einerseits ein „Atlas“ im Sinne einer geografischen Erforschung der Welt, aber es kann auch im mathematischen Sinne als komplexe Struktur oder sogar mythologisch gedeutet werden. Der „Atlas“ ist ein poetisches und literarisch offenes Format, das Ransmayr dem Leser an die Hand gibt, und es vermittelt ihm auch durch diese Offenheit die Motivation Ransmayrs, zu schreiben. Und dabei ist er anders als Chatwin, wenn er durch Patagonien streift. Er schreibt eine „Poetik der Welt“ und versucht nicht Reisebericht und Literatur zu kombinieren. Und dabei hat man immer das Gefühl von Authentizität, Unmittelbarkeit und Nähe des Erzählers, der nicht distanziert beobachtet, sondern sich in seiner literarischen Welt autark bewegt.

Christoph Ransmayr ist, wenn man ihn denn zum Gegenbild einer digitalen Welt stilisieren möchte, ein noch ganz „analoger“ Erzähler. Es sind die langsamen Übergänge in seiner Prosa, die Abwesenheit der digitalen Welt, der Medienpräsenz und der Verfügbarkeit, die sein Erzählen ausmachen. Er poetisiert die Welt, entzieht sie dem medialen Zugriff, findet die einfachen Geschichten in einer komplexen Welt. Und seine Geschichten sind langsam, lassen sich Zeit, suchen auch nach Erklärungen neben dem Offensichtlichen und integrieren Mythologie, Fremdheit und Exotik. Das Abenteuer des Reisens wird zu einem vertrauten Ort.

Eine der Miniaturen trägt den Titel „Love in vain“. Und den Einstieg findet Ransmayr mit einem einfachen Satz: „Ich sah einen schmalen Holzsteg, der an der Ostküste von Sumatra in die Mangrovensümpfe führte.“ Kann die Spannung zwischen Titel und erstem Satz größer sein? Kann das Versprechen auf eine Geschichte mysteriöser klingen? Ransmayr löst diese Versprechen in seinem Roman wiederholt überschwänglich ein – und hinterlässt einen glücklichen Leser.

Titelbild

Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
455 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100629517

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