Der Stimmungsimitator

Arnulf Krause erkundet Tolkiens Inspirationsquellen in der „wirklichen Mittelerde“

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Peter Jacksons Verfilmung des „Kleinen Hobbit“ rückt derzeit wieder das gesamte „Herr der Ringe“-Universum ins Interesse einer film- und lesefreudigen Öffentlichkeit. Vor kurzem erschien die rechtzeitig ins Deutsche übersetzte annotierte Ausgabe des „großen Hobbits“ und verschiedene Publikationen versuchen sich daran, den Interessierten die Hintergründe von Tolkiens Mythenwelt Mittelerde und seinen „endlosen nicht erzählten Geschichten“ zu erhellen.

Erhellen, weil viele Vorgeschichten und Bezüge bereits bei Tolkien innerfiktiv im ,Dunkeln‘ liegen. Sie sind scheinbar ,vergessen‘, was bedeutet, dass sie nur in den Supplementen wie etwa dem „Silmarillion“ enthalten sind. Diese wiederum sind nicht alle im gleichen Duktus geschrieben – und mit vergleichbarem Genuss zu lesen – wie die Geschichten um Bilbo und Frodo, noch nicht verfilmt und daher weit weniger bekannt. Erhellen aber auch in einem weiteren Sinne; nämlich in der Offenlegung von Tolkiens Inspirationsquellen und den entsprechenden (literatur-)historischen Vorbildern.

Dieser Art Erhellung zeigt sich auch Arnulf Krauses Buch über die „wirkliche Mittelerde“ verpflichtet. Krause geht dabei von Tolkiens philologischem Hintergrund aus und betont dessen Interesse für Sprachen und Literaturen des Mittelalters, vor allem Islands und Englands. Aus seinem Lieblingstext „Beowulf“, aber auch den Eddas und Sagas hat Tolkien massenweise Namen- und Motivmaterial importiert, das bereits von Rudolf Simek („Mittelerde. Tolkien und die germanische Welt“, 2005) auf die schier unzähligen Bezüge und Verweise in Tolkiens Kunstuniversum hin untersucht worden ist. Simek hatte in philologischer Kleinarbeit für Figuren und Motive Einzelstellennachweise erbracht und Tolkiens Rezeptions- und Modifikationsstrategien offengelegt. Diese Studie war deutlich an ein wissenschaftlich interessiertes und Tolkien-vorgebildetes Publikum adressiert, wohingegen Krauses Buch sich an eine andere Leserschaft richtet und auf allzu viele Zitate sowie deren Belege verzichtet.

Die „wirkliche Mittelerde“, das ist in Krauses Sprachverwendung der mittel- und nordeuropäische Raum vom Holozän bis zum frühen Mittelalter. Jene Welten der überwiegend keltischen und germanischen Stämme, die jenseits der römischen Zivilisation weitestgehend im ,Dunkel‘ lagen, bis sie in der sogenannten Völkerwanderungszeit historisch Gestalt annahmen. In dieses „Stimmungsfeld“ verankert Krause Tolkiens Entwurf der erzählten Mittelerde vor allem des dritten Zeitalters. Im Moment des „Eintretens in die Geschichte“ entsteht eine Vorgeschichte aus Vergangenem und noch Erinnertem, aber auch aus bereits Halbvergessenem und nur noch Geahntem. Die große Zeit der Elben oder der Krieg gegen Melkor beispielsweise sind zum Zeitpunkt der Erzählungen um Bilbo und Frodo lange vergangen und nur noch wenigen erinnerlich. Ein solch geheimnisvolles Ahnen sieht Krause in der Völkerwanderungszeit mit dem sukzessiven Untergang des weströmischen Reiches als realhistorisches Muster, mit dem Tolkien seinen Kosmos grundiert hat. Verwaiste Städte, Ruinen, Geschichten und Geschichte, die dem kommunikativen Gedächtnis langsam entfallen – und sich als unverstandene Rudimente in den Texten späterer Gelehrter wiederfinden.

Vor dem Hintergrund einer so angenommenen Parallelität zwischen der empirischen und Tolkiens Welt unternimmt Krause die Darstellung einer äußerst breit angelegte Kultur- und Literaturgeschichte des Mittelalters. Über die altenglische, altisländische und althochdeutsche Dichtung, irische und walisische Mythen, religiöse Vorstellungen und Kulte, Bestattungsriten, Drachen und Zwerge, Architektur und Schmiedekunst zeigt er immer wieder mögliche Einflüsse für Tolkiens Texte auf.

Auch wenn die Gelehrsamkeit dabei manchmal ins Beliebige auszuschießen und stellenweise in Vergessenheit zu geraten droht, dass der eigentliche Bezugspunkt Tolkien war, eröffnet dieser niedrigschwellige, im positiven Sinne populärwissenschaftliche Ansatz doch einige neue Perspektiven auf Tolkien und sein Werk. Die elegische, aus dem Rückblick auf Vergangenes und Verlorenes entstehende „Stimmung“ ist eine Hypothese, die ebenso weiterzuverfolgen wäre wie eine Untersuchung des „Lords of the Rings“ als nationalem Mythos im Kontext des romantischen Projekts einer ,Neuen Mythologie‘. Da diese noch nicht erzählten Geschichten nicht mehr endlos sind, ist es ein Verdienst des Buches, diese trotz einer viel allgemeineren Zielsetzung in Aussicht zu stellen.

Titelbild

Arnulf Krause: Die wirkliche Mittelerde. Tolkiens Mythologie und ihre Wurzeln im Mittelalter.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2012.
230 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783806224788

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