Mehr als teilnehmendes Beobachten

Hanns-Josef Ortheil schickt in seinem Roman einen Ethnologen nach Sizilien

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hanns-Josef Ortheil ist einer der produktivsten und vielseitigsten Erzähler der Gegenwartsliteratur. Man kann sich darauf verlassen, dass in jedem Jahr ein erzählfreudiges, intelligent unterhaltendes Buch des Autors erscheint, der zugleich Pianist und an der Hildesheimer Universität Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus ist. Der 1951 in Köln geborene Ortheil hat mit dem Roman „Abschied von den Kriegsteilnehmern“ (1992) der Nachkriegsliteratur den Laufpass gegeben, er hat eine historisch ausgreifende Italien-Trilogie und mit „Die geheimen Stunden der Nacht“ (2005) einen elogischen Roman auf seine Geburtsstadt geschrieben, er ist in der „Moselreise“ (2010) den Spuren des Moseldichters Stefan Andres gefolgt und hat zuletzt in einer Romantrilogie bewiesen, dass man heute Liebes- und Gesellschaftsromane durchaus mit kitschfreien Happy Endings schreiben kann. Bei alledem bewegt sich Ortheils Schreiben auf der Achse einer „Selberlebensbeschreibung“ (Jean Paul), deren Pole die rheinländische Herkunftswelt und die südeuropäische Sehnsuchtslandschaft sind.

Benjamin Merz heißt nun „Das Kind, das nicht fragte“. Am Anfang des Romans kommt Ortheils Hauptfigur in einer sizilianischen Bergstadt an, die berühmt ist für ihre Dolci: süßer Stoff für den Kölner Ethnologen, der sich vorgenommen hat, die Ortstrukturen, Lebensgewohnheiten und Familiengeheimnisse der Einheimischen genau zu erkunden. Doch es kommt ganz anders, als er denkt. Schon die Tritte ins Fettnäpfchen bei der Ankunft unseres Helden am Flughafen zeigt, dass Nichtbeachtung und Spott die Kehrseite ethnologischer Feldforschungen ist. Aber auch Liebesirrungen und erotische Verwirrungen. Merz muss sich zwischen seiner blonden Pensionswirtin Maria und deren nicht minder attraktiver dunkelhaariger Schwester Paula, einer Übersetzerin des sizilianischen Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo, entscheiden. Der Ortsbürgermeister wird ohne weiteres in ein sagenhaftes Zukunftsprojekt einbezogen, seine Tochter Adriana will Ethnologie studieren und legt es auf die Verführung von Merz an. Es ist nicht zufällig ein Buchhändler, der den entscheidenden „Erzählmotor“ anwirft.

Der läuft nicht nur auf Hochtouren, wenn der Ich-Erzähler mit den Bewohnern Mandlicas spricht, sondern auch wenn er sich an seine Kindheit erinnert. Seine vier älteren Brüder hatten seine Kreativität jahrelang so stark unterdrückt, dass er sich versteckte und das Fragen verweigerte. Selbst als Ethnologe, der Schweigende durch gut gesetzte Fragen zum Reden und Erzählen bringt, fehlt ihm heute der Mut zur Selbstbefragung. Das Eis bricht erst in einer griechischen Klosterkirche, wo aus der Zwiesprache mit Gott ein eindringliches Selbstgespräch wird. Unser Held kommt zu sich selbst, indem er lernt, die richtigen Fragen zu stellen, gerade auch an sich selbst. Und sich so seine eigene Geschichte zu erzählen.

Diese Selbstfindung inszeniert Hanns-Josef Ortheil vor der grandiosen Sommerkulisse Siziliens, mit vielen kulinarischen Episoden und aus früheren Romanen vertrauten Köln-Reminiszenzen. Der Roman erzählt davon, wie der Ethnologe, der sich selbst fremd ist, Heimat und Braut in der Fremde findet. Entdeckt wird die emotionale „Landvermessung“ als Heilmittel gegen seine „Versteinerungsattacken“. Ethnologie ist nicht nur teilnehmendes Beobachten. Vielmehr ist es die Aufgabe des Forschers, aus dem Sprechchor der Stimmen eine Erzählung zu komponieren. Was Merz schließlich auch bei der eigenen Lebensgeschichte gelingt. So entsteht ein wundervoller Roman über die Geburt des Erzählens aus dem Geist der Ethnologie, ein Buch über Köln und den Süden, eine Selbstentdeckungsfahrt mit tröstlichem Ende. Man muss sich den fragenden Erzähler Hanns Josef Ortheil als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Das Kind, das nicht fragte. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2012.
425 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873022

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