Altenpflegerin und Ballerina

Gabriele Goettle unternimmt „Reisen durch den unbekannten Alltag“

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Buchhändlerin, eine Bäuerin aus dem Wendland, eine Ballerina. Eine Lehrerin, eine Arbeitslose, eine Sozialanwältin. Schicksale. Aber Gabriele Goettle, die in der „taz“ seit vielen Jahren Reportagen schreibt, hat nicht ihr „Schicksal“ im Blick, sondern ihre Geschichten, und ihre Geschichte.

Wie die von Ingrid Reinke. Seit 56 Jahren sitzt sie in einem Kiosk, einem „magischen Ort“, wie Goettle ihn nennt. Schon ihr Großvater hat hier gearbeitet, und Ingrid Reinke hat ihm schon als Jugendliche geholfen, Süßzeug und Zigaretten, Ahoi-Brause und seltsame Kaugummimarken zu verkaufen. Ein schrecklicher Job? Reinke ist zufrieden, und wenn es klappt, „dann gehe ich zur Musikschule und lerne noch singen. Ich möchte Oper singen.“ Siebzig Jahre ist sie alt.

26 Frauen hat Goettle besucht, die Reportagen dazu sind zwischen 2007 und 2009 in der „taz“ erschienen. „Reisen durch den unbekannten Alltag“ sind es geworden, Reisen zu einer Altenpflegerin, einer Bestatterin, einer Tätowiererin, einer Bodybuilderin, einer Arbeitslosen. Die Reportagen, bis zu 14 Seiten lang, sind immer gleich aufgebaut, nach einem kurzen Lebenslauf folgt die Vorstellung des Berufs und die Erzählung der Interviewpartnerin. Das ist so geschickt komponiert, dass man denkt, die Frauen erzählen einfach und direkt vor sich hin, nur selten unterbricht Goettle sie mit kurzen Beobachtungen und ein bisschen Atmosphäre.

Eines haben sie alle gemeinsam, diese Frauen zwischen Jahrgang 1919 und 1973: Sie alle sind ihren eigenen Weg gegangen, ohne damit anzugeben, ohne besonderes Aufheben davon zu machen. Wahrscheinlich sind die Reportagen gerade deswegen so eindringlich, weil sie den Feminismus nicht vor sich her tragen, sondern ihn einfach und selbstverständlich verkörpern. Für diese Frauen ist ihre eigene Leistung ganz normal, sei es die Bestatterin, die bedauert, dass immer mehr Menschen in einer Urne begraben werden, ohne Abschiedszeremonie. Oder wenn die Altenpflegerin zeigt, dass auch heute bei leeren Kassen Menschlichkeit in der Pflege möglich ist.

Viele Frauen haben typisch weibliche Berufe, arbeiten beim Berliner Krisentelefon „Pflege in Not“ oder bei „Bella Donna“, der Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Frankfurt an der Oder. Andere sind in Spitzenpositionen, an der Uni, als Kulturwissenschaftlerin, Medizinhistorikerin oder beim Gericht. Oder beim Arbeitsamt – die einzige Frau, die anonym bleiben möchte. Was man versteht, denn was sie erzählt, erlebt jeder Hartz-IV-Empfänger als Opfer und sie sagt: „Ich mache nicht zahllose, ich mache vor allem eine, grundsätzliche, häßliche Erfahrung, und das ist die der Würdelosigkeit. Die ist quasi schon per Gesetz so angelegt.“

Und so werden die Reportagen nach und nach zu einem mosaikartigen Stück Sozialforschung. Und noch etwas anderes passiert: Dass man nämlich langsam aufmerksam wird auf die Menschen, denen man begegnet. Denn diese Frauen, die Goettle interviewt hat, sie haben etwas zu erzählen. Und sie wohnen überall. Vielleicht gleich nebenan. Man müsste sie nur mal fragen. Oder ihnen zuhören.

Titelbild

Gabriele Goettle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag.
Verlag Antje Kunstmann, München 2012.
400 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783888977817

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