Der negative Classiker

Zum 200. Todestag von Christoph Martin Wieland

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

„Wenn eine Gesellschaft vor ihrer literarischen Kultur keine Achtung mehr hat, wenn die Achtung nicht so beschaffen ist, daß sie es als achtenswert empfindet, über diese Kultur einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn sie also das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit – ihre Unbildung – nicht mehr als bedauerlichen Mangel empfindet […], dann ist nichts mehr zu machen.“

Jan Philipp Reemtsma

Christoph Martin Wieland, geboren am 5. September 1733 in der Nähe der oberschwäbischen Stadt Biberach, ein ,klassischer Autor’ der deutschen Literaturgeschichte, wie man hierzulande kaum noch sagt, aber zum Beispiel in Frankreich, und zumal in diesem Fall, ohne weiteres sagen würde, ist am 20. Januar 1813 in Weimar gestorben. Am 20. Januar 2013 konnte man also seines 200. Todestages gedenken – oder man hätte es tun können. Wie man weiß und in diesem Fall wieder studieren kann, werden auch Gedenkereignisse dieser Art überhaupt nur wahrnehmbar, wenn sie in der Öffentlichkeit geschehen und dort Spuren hinterlassen, und das heißt: in den Medien. Aber solche Spuren eines Wielandgedenkens sind in diesem Jahr nicht zahlreich, meinem zugegeben nur flüchtigen Blick begegneten in den vergangenen Wochen neben einer Lesung aus dem satirischen Roman „Die Abderiten“ im Radioprogramm des NDR eher weniger als eine Handvoll Artikel in der Presse dieses Landes, die sich jedoch in der Wahl ihrer Themen und Zitate und im Ton ihrer Würdigung von Gedenkartikeln vergangener Jahrzehnte nicht unterschieden. Nur das Jahr 1983 schien eine Ausnahme zu machen. Das 250. Geburtsjahr wurde zu einer Zeit gefeiert, als man in der Neugermanistik und zumal der germanistischen Aufklärungsforschung vor (unbegründetem) Optimismus kaum gehen konnte und manche damals sogar von einer „Wieland-Renaissance“ schwadronierten.[1]

Aber das war eigentlich immer so, seit es spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland das Universitätsfach Neugermanistik/Literaturgeschichte gibt, nach dessen Curricula im wesentlichen Deutschlehrer ausgebildet wurden und werden. Man gedachte Wielands immer als eines marginalen Vorklassikers, literarisch ,überholt’, weil als „deutscher Voltaire“ moralisch und politisch verdächtig. Ein „Sittenverderber“ und „Wollustsänger“ (Ludwig Hölty 1775) war er schon für die Dichter des Sturm und Drang, die Ausdruckspoeten mit den aufgeblasenen Backen, was aber damals wenigstens noch den einen Vorteil hatte, dass der polemische Geist Lichtenbergs davon entzündet und zu einer wunderbaren Attacke angeregt wurde, die mindestens an Karl Kraus erinnert: „Nichts ist lustiger, als wenn sich die Nonsense-Sänger über die Wollustsänger hermachen, die Gimpel über die Nachtigallen. Sie werfen Wielanden vor, daß er die junge Unschuld am Altar der Wollust schlachtet, bloß weil der Mann, unter so vielen verdienstlichen Werken, die die junge Unschuld nicht einmal versteht, auch ein paar allzu freie Gedichte gemacht hat, die noch mehr wahres Dichter Genie verraten als alle die Oden voll falschem Patriotismus für ein Vaterland, dessen bester Teil alles das Zeug zum Henker wünscht. Die Unschuld der Mädchen ist in den letzten 10 Jahren, da die Comischen Erzählungen heraus sind, nicht um ein Haar leichter zu schlachten gewesen als vorher, hingegen sieht man täglich, wie der gesunde Menschenverstand unter Oden-Klang am Altar des mystischen Nonsenses stirbt“ (Georg Christoph Lichtenberg 1775 in einem Brief an den Göttinger Verleger Johann Christian Dieterich).

Später werden die Urteile lockerer, wenn man über den erotischen Faun mit der Zipfelmütze lächelt (ein Anthologist von 1913) oder immer wieder das Schema des „frivolen Spötters“ bemüht, der „doch im Grund ein pedantischer Philister“ gewesen sei; „pedantisch gerade in dem Streben, keine festen moralischen Anschauungen zu haben; ein braver behäbiger Familienvater, der sich als lüsterner Faun gebärdet“ (so der bekannte Germanist Paul Kluckhohn 1924). Fast könnte man sagen, das Desinteresse an Wieland herrschte bereits in seinem Todesjahr 1813, dem Jahr der Leipziger Niederlage Napoleons und des Beginns der „Freiheitskriege“, als man an einen „deutschen Voltaire“ zuletzt gedacht haben wird, einen Klassiker der Spätaufklärung, der wie auch Goethe und Schiller deutsch-nationale Staatlichkeit und dergleichen nie vermisst hatte.

Goethe war der einzige, der dem Verstorbenen mit seiner Weimarer Rede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“ in der Freimaurerloge Anna Amalia ein paar Wochen nach dessen Tod ein wenigstens rhetorisches Denkmal gesetzt hat. Dort heißt es am Schluss, das von ihm Vorgetragene könne „dem zur Einleitung dienen, was künftig […] von andern besser zu leisten wäre.“ Würde alles gesammelt werden, „was öffentlich über unsern Freund erscheinen wird“ und was an vertraulichen Mitteilungen etwa zusammenkommt, „so würde hierdurch ein Schatz von Tatsachen, Nachrichten und Urteilen gesammelt, welcher wohl einzig in seiner Art sein dürfte, und woraus denn unsere Nachkommen schöpfen könnten“. Aber wie die Passagen des bedeutenden Essays über „Literarischen Sansculottismus“ (1795), die von Wielands Stilkunst und Klassizität handeln, und die verklärenden Strophen im „Maskenzug“ von 1818 gehört die Logenrede Goethes zum Einsichtsvollsten, das über Wieland geschrieben wurde. Die Wieland-Rezeption des 19. Jahrhunderts ist weithin geradezu gegen Goethes Wielandbild gerichtet, soweit es sich aus dem Essay von 1795 und der Logenrede ergibt, – ein doch erstaunlicher Befund über das Jahrhundert des zunehmenden Klassikerkults, der die Namen der Weimarer Dioskuren beständig im Munde führte.

Nicht weniger denkwürdig ist, dass Wieland fünfundzwanzig Jahre vor Goethes Logenrede, im frühen Vorfeld der Konstitution jenes Faches, das heute nach ,Bologna-Reform’ und anderen Selbstzerstörungen sich aufzulösen im Begriffe ist (und zu diesen Auflösungserscheinungen gehört auch, dass sie ihrer Pflicht zu öffentlicher Erinnerung an ihre Gegenstände nicht mehr nachkommt) – dass Wieland also Gegenstand einer der ersten akademischen Vorlesungen über einen zeitgenössischen deutschen Schrifteller gewesen ist, als es noch gar nicht üblich war, über aktuelle deutsche Belletristik an der Universität zu lehren. Doch im Sommersemester 1788 und im folgenden Jahr hält der berühmte Philosoph Carl Leonhard Reinhold, Schwiegersohn Wielands, in Jena eine Vorlesung über dessen Verserzählung „Oberon“, bei deren Beginn am 26. April „weit über vierhundert Studirende dabey zugegen“ waren.[2] Man könnte vielleicht von einer Veranstaltung für Hörer aller Fakultäten außerhalb des curricularen Semesterprogramms sprechen. In der alteuropäischen Universität vor den Reformen um die Wende zum 19. Jahrhundert, die ja in Deutschland (besonders mit der Berliner Neugründung Humboldts um 1810) viel eingreifender waren als im übrigen Europa, sind Gegenwartsautoren gewöhnlich „Privatlektüre“, und niemandem wäre es eingefallen, sie systematisch etwa im Rahmen des Grammatik- oder Rhetorikunterrichts in der Artistenfakultät zu behandeln, aus der im 17. und dann im 18. Jahrhundert die Philosophische Fakultät geworden ist, – eine Möglichkeit übrigens, die in der einen oder anderen Form auch der Beschäftigung mit deutscher Literatur offen steht, nachdem sie demnächst als akademische Disziplin nach anderthalb Jahrhunderten ihre Zeit gehabt haben wird: die Rückkehr zur Privatlektüre. Denn es ist eigentlich nicht einzusehen, warum das Interesse an neuerer Literaturgeschichte immer Gegenstand eines akademischen Faches bleiben muss.

Womit lässt sich heute ein Interesse an Wieland begründen?

Ist eine solche Begründung nicht nur möglich, sondern auch überzeugend – oder hat die leblose Gedenkroutine gegenüber den Kalenderjubiläen dieses Schriftellers seit 200 Jahren nicht doch recht? Schränken wir die Frage auf den literarhistorisch noch immer Interessierten, also den Autor dieser Zeilen, ein: Würde mich jemand fragen (was man aber dann doch meist selbst tun muss), wie ich mein Interesse an Wieland und an welchen Aspekten seiner Person und/oder seines Werkes heute begründen würde, was würde ich sagen?

1. Das Interesse ist zuerst einmal rein historisch. Neben einzelnen Lieblingswerken wie dem „Diogenes“-Kurzroman, dem „Goldnen Spiegel“, den „Abderiten“, dem späten Roman „Aristipp“ sowie der frühen Erzählung „Araspes und Panthea“ betrifft es Evolutionen und Errungenschaften in der Stil- und Gattungsgeschichte der deutschen Literatur im mittleren und späten 18. Jahrhundert, im Vorfeld der sogenannten Goethezeit und in dieser selbst, es betrifft Facetten von Aufklärung in Deutschland, à propos Wieland als „deutscher Voltaire“ (doch vielleicht wäre es besser gewesen, vom „deutschen Crébillon“ zu sprechen). Also Fragen dieser Art und noch sehr viel spezifischere.

2. Es ist weiterhin ein Interesse an einem auch gegenüber seiner Zeit und gesellschaftlichen Umgebung in Deutschland (das Wieland, von seinen frühen Jahren in Zürich und Bern abgesehen, nie verlassen hat) sehr vielseitig aufgeschlossenen und ,gebildeten’ Autor, sowohl literarisch gebildet (Antike, besonders griechische Spätantike, und europäische Neuzeit) als auch in gelehrten Disziplinen, ein Interesse also am Typus des poeta doctus und an einem zugleich sehr, sagen wir: individuell-fantasievollen Schriftsteller.

3. Im Mittelpunkt aber steht das Interesse an der in Deutschland ziemlich seltenen Spezies von einem Schriftsteller, der vom frommen Idealisten (mit schwäbisch-pietistischem Familienhintergrund) zum ironischen Skeptiker geworden ist und diese Schreibweise und Lebensansicht über viele Jahrzehnte hin (seit den späten 1750er-Jahren) für seine Verhältnisse ziemlich weit getrieben hat. Man ist in großer Verlegenheit, wenn man sagen soll, welcher deutsche Autor ihm im 18. oder 19. Jahrhundert darin gleichkommt. Auf andere Weise vielleicht Herder, und noch ganz anders vielleicht Hölderlin und Kleist. So gesehen hatten die nationalmoralischen Widersacher nicht ganz unrecht, ihn zu marginalisieren. Das heißt, Wieland hatte schon die richtigen Feinde. (Einem Autor, der die falschen Feinde auf sich zieht, ist auch sonst nicht zu trauen). Entscheidend ist aber hier das Studium der Art und Weise, wie er in Biberach, Erfurt und dann in Weimar intensiv daran arbeitet, für diese speziellen ironisch-dialogischen Schreibweisen, die in Deutschland um diese Zeit noch ganz neuartig sind, angemessene literarische Ausdrucksformen auf deutsch zu entwickeln, meist durch Kombination aus vorhandenen Gattungen und Schreibweisen, aber auch neue zu erfinden und dann zu elaborieren. Um zuvor im Deutschland der Frühen Neuzeit etwas vergleichbar Elaboriertes zu lesen, musste (und muss) man auf neulateinische Texte von Humanisten des (frühen) 16. Jahrhunderts zurückgehen, auf Ulrich von Hutten zum Beispiel – oder Erasmus von Rotterdam. Aber der hätte sich nun wirklich dagegen gesträubt, wenn auch in der ihm eigenen leisen Art, sich als Deutscher betrachten zu lassen, und er soll auch nur wenige Worte Deutsch verstanden haben. Die literarische Einbildungskraft, motiviert von einer Art poetischem Empirismus, und ihre Verfahren des Spiels der Illusionen und des Wechsels verschiedener Perspektiven, die ironische Aufhebung und Verwandlung der Wirklichkeit und der Urteile über sie – also die poetische Fiktion ist Wieland das Äquivalent einer philosophischen und politischen Kritik der Erfahrung, die etwa zur gleichen Zeit Jean-Jacques Rousseau formulierte, mit sehr viel größerem Erfolg und dem Erwerb sehr viel böserer Feinde. Wieland wollte der poetischen Fiktion, wie er sie schreibend praktizierte, einen kultivierenden Einfluss auf die Seelen seiner Leser zutrauen – während ihm Schillers Fortschrittskonzept der „ästhetischen Erziehung“, das heißt die auch geschichtsphilosophische Seite der sogenannten Weimarer Klassik, immer fern gelegen hat. Das ist ein Hauptargument gegen die Vereinnahmung Wielands für die sogenannte Weimarer Klassik.[3]

4. Schließlich ist es ein Interesse an der Rezeptionsgeschichte Wielands seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie ist deshalb so lehrreich, weil er, wie gesagt, die richtigen Feinde hatte und sich deshalb an seiner Aufnahme und Kritik fast exemplarisch zentrale Themen, Nervenpunkte, Wandlungen und Brüche der deutschen Kultur des 18. bis 20. Jahrhunderts studieren lassen. Es lohnt sich, dabei das Konzept des „Klassikers“ etwas genauer zu verfolgen.

Wieland, „der negative Classiker“ (Friedrich Schlegel): unernst, unheroisch, undeutsch

Die Abwertung und das Unverständnis, das Wieland vom sogenannten „Sturm und Drang“ und in verschärftem Maße von Autoren der Romantik erfahren hat, so hat es der schwäbische Landsmann und Neugermanist Friedrich Sengle im Vorwort zu seinem noch heute lesenswerten Wielandbuch[4] und später immer wieder erklärt, seien die maßgeblichen Gründe für die Entwertung dieses Dichters und seines Werkes im 19. Jahrhundert gewesen. Doch diese Auffassung dringt nicht zu den entscheidenden Ursachen vor. Darauf verweist schon die Tatsache, dass distanzierte Einstellungen einzelner späterer Kritiker gegenüber der Romantik keineswegs zu einer Aufwertung Wielands geführt haben. Und es handelt sich ohnehin nicht einfach um die Frage einer Kritik oder Abwertung Wielands. Davon gab es auch im vorromantischen 18. Jahrhundert genug, und andererseits findet man im späteren 19. Jahrhundert mehrere Autoren – wenn auch selten unter akademischen Literarhistorikern –, die entschieden für Wieland eintraten. Dazu gehören Heinrich Laube, der Freiherr von Feuchtersleben, Viktor Hehn und später der Wiener Kritiker und Essayist Franz Blei. Unter den Germanisten regt sich größere Offenheit erst seit der Generation, die auf Scherer folgt, dann allerdings in auffallender Häufigkeit: nicht nur bei Bernhard Seuffert, dem ersten Direktor der Wieland-Ausgabe der Preußischen Akademie (1909 begonnen und auch von den Folgeinstitutionen noch heute nicht abgeschlossen), sondern auch bei Richard Moritz Meyer und Albert Köster sowie bei Josef Nadler, um nur die prominentesten Namen zu nennen. Freilich sind auch die anerkannten Urteile über Wieland jetzt anders gewichtet und vor allem anders begründet als bei Lichtenberg oder bei Goethe. Spätestens diese Beobachtung führt dazu, Wielands Marginalisierung seit dem Ausgang der Goethezeit nicht auf der Ebene der faktischen Wertungen in literarischen Schulen oder Gruppen zu erklären, sondern auf der Ebene der literarisch-kulturellen Bezugskategorien, weil deren Konstellation die einzelnen Wertungen erst hervorbringt, ermöglicht und auf Dauer stellt. Um das zu studieren, muss man sich auf zwei Brennpunkte des literarisch-institutionellen Wandels um 1800 konzentrieren:

1. auf den Wandel von Gegenstand, Verfahren und Funktion der Literaturgeschichtsschreibung,

2. auf den Wandel des Literaturkanons, genauer: der Kriterien für dessen Konstruktion, aufgrund eines neu gefassten Begriffs vom literarischen Klassiker.

Der Wandel dieser Basiskategorien kumuliert zu einer massiven, tiefgreifenden Umstrukturierung der literarischen Kommunikation am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, für die die Bezeichnung Paradigmawechsel sehr wohl am Platze ist.

Eine neue Historiografie der Literatur seit Gervinus

Die Literaturgeschichte wurde während des ersten Jahrhundertdrittels mehr und mehr als kontinuierlicher Prozess und Progress dargestellt, unter dem Einfluss Hegels als ein ,geistiger’ Prozess aus literarisch-künstlerischen, historischen, religiösen, philosophischen und politischen Ideen. Bedeutende Autoren (in Deutschland bis vor kurzem „Dichter“ genannt) fungierten in diesem geschichtlichen Tableau, das durch eine Architektur von hierarchisch aufeinander bezogenen Epochen gegliedert war, als zentrale Größen der Zurechnung und Integration. Diese zuletzt genannte Praxis, die mit Hegel wenig zu tun hat, ist gerade für Wieland aussschlaggebend gewesen. Unter dem Eindruck der scharfen Ablehnung durch Kritiker wie Friedrich Schlegel äußerte er im Gespräch gegenüber Böttiger, er habe „seit fünfzig Jahren eine Menge Ideen in Umlauf gesetzt, die den Schatz der Nationalkultur vermehrt haben und nun gar nicht mehr den Stempel ihres Urhebers tragen. Dies ist mein Verdienst“ (am 4. Mai 1800). Leider, so muss man vermuten, hat diese Art der Wirkung Wielands „Verdienst“ eher zum Verschwinden gebracht. Denn die Literarhistorie des 19. Jahrhunderts ist weniger an anonymen Investitionen in ein nationalkulturelles Kapital interessiert als vielmehr und mit Nachdruck an der Zurechnung ästhetischer Leistungen bestimmten Autoren gegenüber, also an personalisierbaren ,Verdiensten’.

Man kann das an der Literaturgeschichte von Georg Gottfried Gervinus besonders gut studieren (die erste Fassung von 1835-1842). Diese neue Literaturgeschichte besitzt vor allem zwei Eigenschaften: Sie handelt, ganz im Sinne Hegels, von einem Prozess, der an sein Ende gekommen ist, zur ,Erfüllung’. Diese Erfüllung ist die Weimarer Klassik, weshalb die Literaturgeschichten im 19. Jahrhundert noch lange Zeit mit Goethes Tod schließen und eine Fortsetzung darüber hinaus ein großes Problem darstellt. Zweitens handelt sie von der literarischen Kultur der Deutschen als dem nationalen Leitdiskurs, das heißt ausdrücklich nicht von der Politik, und deshalb kommt der Literatur in beiden Hinsichten mehr als eine kompensatorische Funktion zu: Literaturgeschichte ist nicht nur nationaler Identitätsersatz (für missglückte, nicht zur ,Erfüllung’ gelangte Politik, im Sinne des Konzepts von der „Kulturnation“) und zugleich Identitäts-Optimum, sondern, wie zum Beispiel bei Gervinus, eine Art antizipierter Vollendung: „Wir hatten in Deutschland, wie noch jetzt [1842], keinen Staat, keine Politik, wir hatten nur Literatur, und Wissenschaft und Kunst“.

Die Geschichtserzählung über den politischen Zustand Deutschlands könne niemandem Trost bieten – ganz anders die Geschichte der Poesie: „Sie ist zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein Ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann“.

Man sollte sich nicht darüber täuschen, dass die Geschichte der Literatur mit solchen Funktionen a-literarisch verfasst war (Gervinus im Vorwort 1835: „Ich habe mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen nichts zu tun“), als Trägerin von Ideen und Gesinnungen, mit Hilfe der Dichtergestalten als Studienbuch einer nationalen Charakterologie. Diese Funktionen blieben auch unter den gewandelten Bedingungen des Nachmärz und des Bismarckreiches erhalten, von den Korrekturen im Detail abgesehen, die die Umstellung von den kosmopolitischen Ideen und Selbstdefinitionen der „Kulturnation“ auf die Reichsideologie der preußisch-deutschen Militärmonarchie, also vom Weltbürgertum zum Nationalstaat (Friedrich Meinecke), mit sich brachten. Allerdings galt nun auch die politische ,Erfüllung’ als erreicht, die Literaturgeschichte verlor ihren ,Erfüllungs-Überschuss’ und musste nun vollends aufgehen in der Legitimierung und Verklärung von Macht und Besitz. Im Originalton klingt das so: Im kleindeutsch-national-liberalen Geist schieden sich allmählich „Humanität und Kosmopolitismus“ voneinander, schreibt ein apologetisch gestimmter Chronist rückblickend im Jahre 1915: „Der himmelblaue Kosmopolitismus […] verblaßte jetzt neben dem frischen Grün eines humanen Nationalismus.“

Der neue Klassiker als nationalkulturelle Projektionsfigur

Hand in Hand damit erfolgte die Umstellung des Klassiker-Konzeptes, ein Kategorienwandel, der noch heute oft nicht klar genug gesehen wird. Das Klassiker-Institut der alteuropäischen Gelehrtenkultur (auctor classicus) wurde um 1800 durch eines neues ersetzt. Das heißt, dass aus Musterschriftstellern im Bezugsrahmen einer verbindlichen Stilistik zum professionellen Gebrauch personale Leitfiguren im nationalkulturellen Bezugsrahmen der bürgerlichen Öffentlichkeit zum konsumtiven Gebrauch des gebildeten, nicht mehr professionellen Publikums werden.

Klassischer Autor im Sinne der alteuropäischen Gelehrtenkultur ist man nicht als Person in einem nationalkulturellen Wertekontext aus moralischen, psychologischen und politischen Variablen. Vielmehr ist man auctor classicus als typischer Vertreter einer literarischen Gattung oder Schreibweise in Korrelation zu Stilqualitäten, Gegenständen und Themen. Auch wenn Ende des 18. Jahrhunderts häufig vom „klassischen Nationalautor“ die Rede ist (und meistens ist Wieland gemeint), so zielt auch das in der Regel noch auf den Musterautor der Tradition – in der Regel; denn mit der Integration des Konzeptes vom „Nationalgeist“ etwa bei Johann Georg Sulzer wird ein wichtiger Schritt in Richtung auf den Kategorienwechsel getan. Erst im Rahmen der neuen Historiografie der Literatur vom Typ Gervinus – und hier konvergieren beide Wandlungsprozesse, der Historiografie und des Klassiker-Instituts – tritt das neue Klassiker-Konzept der personalen nationalen Leit- und Projektionsfigur in Kraft.

Der Umbruch in den beschriebenen institutionellen Kategorien liegt dem Geltungsverlust Wielands als Klassiker voraus. Ein Klassiker des alten Typs und gar ein „deutscher Voltaire“ eignet sich in keiner Hinsicht zum Wertträger oder zur Projektsfigur in einem Kontext nationalkultureller Identitätssymbole. Interessant ist allerdings die Debatte, die kurz nach seinem Tod in französischen und deutschen Feuilletons über die Berechtigung dieses Etiketts geführt wurde. Die Berechtigung zum Titel eines „Voltaire allemand“ wurde einhellig verneint – aber nicht weil man Wieland zum echten deutschen Klassiker erklären wollte, sondern weil man offenbar nicht mehr verstand, was das Etikett besagte. Es behauptet, im Sinne des alten Klassiker-Konzeptes, eine Analogie zwischen Verschiedenem und gerade nicht die Verwischung oder Verharmlosung nationaler Unterschiede. Allerdings geht es von einem Tertium comparationis aus, das die Vergleichbarkeit zwischen den Nationalkulturen und den agonalen Wettstreit ermöglichte und sicherte. Aber diese Vergleichbarkeit ist eben, auf längere Sicht, unter der Dominanz der neuen Kategorien zusammengebrochen.

Die Geschichte ist auch deshalb ziemlich unglücklich für Wieland verlaufen, weil er und sein Verleger noch vor der Jahrhundertwende sehr erfolgreich mit einer publizistischen ,Offensive’ gewesen waren. Zu Beginn des Jahres 1788 nämlich unterzeichnet Wieland den Vertrag über die „Sämtlichen Werke“, die der Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen dann seit 1794 herausbringt, und 1788-89 hält der Schwiegersohn Carl Leonhard Reinhold in Jena die Vorlesung über denOberon“. Die Ausgabe Göschens, die zwischen 1794 und 1811 in 39 Bänden (dazu 6 Supplementbände) erschien, ist nicht nur die erste Gesamtausgabe und die Ausgabe letzter Hand, von Wieland zusammengestellt, ergänzt und autorisiert. Sie ist auch das erste Unternehmen dieser Art und Größenordnung in der deutschen Verlagsgeschichte. Dieses Unternehmen wurde nicht zuletzt durch den dramatischen Anstieg des Anteils der Belletristik an der Buchproduktion sowie durch das Volumen der Romanproduktion ermöglicht. Die Zahl der zur Ostermesse gemeldeten Belletristiktitel war von 44 im Jahre 1740 auf 551 im Jahre 1800 gestiegen. Die Zahl der Autoren wird um 1800 in Deutschland auf 10.000 geschätzt.

Die Wielandausgabe in vier Formaten (Oktav, Klein- und Großoktav und Quart) hat den Ruhm des Autors noch vergrößert, war aber auch unmittelbarer Anlass zu hämischem Spott in den Kreisen der jungen ,Romantiker’. Der Ruhm verblasste rasch nach Wielands Tod. Aber allein das Vorliegen der Ausgabe, der bald weitere (und billigere) Ausgaben Göschens (in den 1820er- und 1850er-Jahren) und später Gustav Hempels (1879 ff.) folgten, bot die Gelegenheit und die Textgrundlage zum Diskurs über das Gesamtwerk eines Klassikers, auch wenn dieser streng genommen als solcher im Sinne des neuen Klassiker-Konzeptes gar nicht mehr anerkannt wurde. Der Historiker Ludwig Wachler spricht 1819 – bedauernd – davon, „daß in unseren Tagen viele gegen Wielands Werke kälter geworden sind“. So lässt sich beobachten, wie im ersten Jahrhundertdrittel Schematisierungs- und Synthetisierungsversuche in Richtung auf eine neue nationale Literaturgeschichte vor allem mit Bestandteilen eines ,Wieland-Diskurses’ erprobt wurden. Auch aus diesem Grund sind die Wertungen in dieser Zeit so uneinheitlich. Neu ist besonders die Notwendigkeit, die Klassikergestalten für die nationale Charakterologie ,auszuwerten’: Darin bestand ja der Hauptzweck des neuen, a-literarischen Klassiker-Konzeptes.

Dies geschah in der Konstruktion meist binärer Zuordnungen, die anfangs öfter wechseln, kontrastiv zumeist, aber auch komplementär. Einander ausschließende Positionen, aber auch: Was der eine nicht hat, ergänzt der andere, und so fort. Einiges davon überdauerte bis ins 20. Jahrhundert: Wieland als Wegbereiter, als Lehrer der folgenden Meister, der selbst nicht Meister sein konnte (so Rudolf Steiner in einem Essay 1933), oder Wieland der Unterhaltungsschriftsteller, der „die gemüthliche Faselei in ein förmliches System“ gebracht habe (Joseph von Eichendorff 1857). Kontraste werden in erster Linie zwischen Wieland und Goethe sowie gegenüber Lessing und Klopstock gesehen. Diese beiden sind „ausgeprägte Ichnaturen“; Lessings „offene und ernste Männlichkeit“, „sarkastisch und peitschend im Geisteskampf“, neben Klopstocks „Ernst“ und „Tiefe“; und daneben Wieland, der lüsterne Epikuräer, passiv, „weiblich“, schwatzhaft (Friedrich Lienhard 1919). Er ist „ohne Ideale“, ohne „Großes“ und „Edles“, seine Poesie ist „Gift, durch welches die edelsten Organe zerstört und die kommenden Geschlechter geschwächt, gelähmt, verkrüppelt werden“ (so der vielgelesene Marburger protestantische Theologe und Literarhistoriker August Friedrich Christian Vilmar 1868) – wenn man sich tiefer in die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hineinbegibt, kommt man ohne psychopathologische Kategorien der Interpretation kultureller Wahnideen nicht mehr aus. Verfestigt wird das Urteilsschema vom schwächlichen, unmännlichen und undeutschen Eklektiker in der zweiten Jahrhunderthälfte, etwa gleichzeitig mit dem Aufstieg Schillers zum nationalen, zum feuerfesten Klassiker Nummer eins des Theaters, der Schulstube und der Festreden. Keinen dieser Plätze konnte Wieland je erobern. Heute sollte ihn das eigentlich sympathisch machen.

In der Reihe der Klassiker (oder „Vorklassiker“) aber wurde Wieland formell immer geduldet, selbst noch, als diese in den Jahren des späten Kaiserreichs von der Militarisierung erfasst wurde: Sechs seien es an der Zahl, schreibt der Scherer-Schüler Richard Moritz Meyer 1911 („Klopstock und Lessing, Herder und Wieland, Goethe und Schiller“), und „in drei Paaren treten sie an.“ Es ist kein Text fürs Kabarett, wie man meinen könnte, wenn Meyer sogar vom „Gardemaß der sechs großen Kerls“ schwadroniert. So ist es folgerichtig, dass man auch Wieland (erst jetzt!) Denkmäler baute. Das in Weimar (noch heute am Wielandplatz, von Gasser) wurde 1857 zugleich mit dem Goethe-Schiller-Monument enthüllt. Die Heimatstadt Biberach leistete sich 1913, im 100. Todesjahr, ein Denkmal. Doch wie der Ruhm des Dichters unter den Deutschen, so hatte auch sein spätes Denkmal keinen Bestand. Die Klassiker mussten nicht nur paarweise antreten und marschieren, sie wurden schließlich auch zu Paaren getrieben. Nach den Glocken der Weimarer Kirchen wurde das Wielanddenkmal 1918 von der „Reichskommission für Denkmälerbeschlagnahmung“ abgeholt und zu Kanonen verarbeitet. Der Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ weiß im August 1918 zu berichten, dass immerhin Kritik daran laut wurde und das Wildenbruchdenkmal als nächstes an der Reihe sei. Man müsse aber „auch hier mit allen Möglichkeiten rechnen und dem Vaterlande geben, was des Vaterlandes ist.“ Ein Redakteur dieses immerhin notorisch liberalen Blatts setzte hinzu: „Wenn Not am Mann ist, sollen auch unsere bronzenen Klassiker und Nachklassiker sich in Granaten verwandeln.“ Der anonyme Artikel ist überschrieben: „Wielands Höllenfahrt“.

Fast am reizvollsten ist und am meisten zu denken gibt nach alledem Friedrich Schlegels Idee von den „negativen Classikern“, vor allem wenn man sie im Zusammenhang auf sich wirken lässt, einer wegwerfenden Bemerkung gegen Popularphilosophie und Literatur der Spätaufklärung. Sie findet sich in einem Brief an Caroline vom Jahr 1798 und lautet wie folgt: „glaube ich jetzt, daß Voß und Wieland der Garve und Nicolai der Poesie sind. Es gibt jetzt offenbar ein wirklich böses Princip, einen Ahriman in der deutschen Litteratur. Das sind sie, die negativen Classiker. Ihr Dichten und Trachten scheint mir nicht etwa nur unbedeutend und weniger gut, sondern ihre Poesie ist absolut negativ, so gut wie die französische von Corneille bis Voltaire.“ Wenn man, anders als Schlegel, die Geschichte danach kennt, kann man das auch als Nobilitierung des Autors Wieland lesen.

[1] Vgl. den damals erschienenen Band: „Christoph Martin Wieland. Nordamerikanische Forschungsbeiträge zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages 1983“. Herausgegeben von Hansjörg Schelle. Tübingen: Niemeyer 1984. Ebenfalls aus diesem Anlass ein German Issue der Zeitschrift „Modern Language Notes“, Jahrgang 99, No. 3, 1984. Eher gehaltvoller waren zuvor der von Schelle herausgebene Sammelband in der Reihe „Wege der Forschung“ (Nr. 421), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, sowie: „Wieland. Vier Vorträge 1953“. Wiesbaden 1954.

[2] Die einleitende Vorlesung wurde sogleich im Mai-Heft von Wielands „Teutschem Merkur“ gedruckt: „Über die nähere Betrachtung der Schönheiten eines epischen Gedichtes als Erhohlung für Gelehrte und Studirende“ (S. 385-404). Zur Bedeutung der „Oberonischen Praelectionen“ Reinholds (so Wieland) für die Geschichte der Literaturwissenschaft bei Klaus Weimar: „Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts“. München: Fink Verlag 1989, S. 154 ff. Weimar dokumentiert auch alle „Vorlesungen über deutsche Texte“, die zwischen 1784 und 1815 an deutschen und benachbarten Universitäten wie Kopenhagen und Lemberg gehalten wurden (S. 161-166).

[3] Im einzelnen Herbert Jaumann: „Die verweigerte Alterität oder über den Horizont der Frage, wie Wieland zur ,Weimarer Klassik’ steht“. In: „Aufklärung als Problem und Aufgabe. Festschrift für Sven-Aage Jørgensen“. München, Kopenhagen: Fink Verlag 1994, S. 99-121 (Text & Kritik, Sonderreihe, 33).

[4] Friedrich Sengle: „Wieland“. Stuttgart: Metzler 1949. Sowohl Biografie als auch Interpretation des Gesamtwerks. Eines der seltenen Bücher, die in ihren Schwächen lebendiger und anregender sind als viele andere durch ihre Stärken.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag greift zurück auf das von Herbert Jaumann verfasste Kapitel VII in dem Arbeitsbuch von Sven-Aage Jørgensen / Herbert Jaumann / John A. McCarthy / Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München: C.H. Beck 1994.