Ein verhindertes Dichterpaar

Jon Helgason untersucht den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die beiden Lyriker Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim haben über Jahrzehnte einen ungemein umfangreichen und bis heute nur in Teilen erschlossenen Briefwechsel geführt, wie er seit der Mitte des 18. Jahrhunderts unter den damals avancierten Autoren üblich geworden war: wortreich wird ein Kult der Freundschaft beschworen, werden einander neue Texte vorgestellt, spricht man sich über literarische Zusammenarbeit aus – und dies vor dem Hintergrund der Norm, Gefühle so differenziert und so aufrichtig wie möglich in Sprache zu fassen. Über die ‚echten‘ Empfindungen der Schreiber und Adressaten ist damit noch nicht allzu viel ausgesagt, sind es doch nur neue, freilich zu differenzierter und variationsreicher Selbstbeobachtung anhaltende Konventionen, in die man sich einübt.

Gleim war seit seinem Erstling „Versuch in scherzhaften Liedern“ mit seinen Trink- und Liebesgedichten zum Star der Lyrikszene geworden, gegen Ende des Jahrhunderts war er fast schon vergessen. Die Karschin als eine von ganz wenigen nennenswerten deutschsprachigen Autorinnen des 18. Jahrhunderts verdient ebenfalls mehr Aufmerksamkeit als ihr bislang zuteil wurde. Eine gute Gelegenheit könnte Jan Helgasons Untersuchung der Korrespondenz bieten.

Schwer lesbar sind diese Briefe für den Leser des 21. Jahrhunderts nicht nur wegen der eigenwilligen Orthografie der „Karschin“, sondern auch – bei aller Neigung zum subjektiv Authentischen – aufgrund der Integration vielfältigen Bildungswissens ihrer Zeit und der ausgreifenden poetologischen Diskussionen. Doch hätte aus der Brieffreundschaft mehr werden sollen, jedenfalls wenn es nach Anna Louisa Karsch gegangen wäre: Sie schickt sich immer wieder an, um den eingefleischten Junggesellen Gleim zu werben, holt sich freilich eine Abfuhr nach der anderen. Da sich dies über viele Jahre fortsetzt, wird man von einem kognitiven Schema sprechen können – eben: Liebe/Werbung und Ablehnung –, das sich sprachlich vielgestaltig und verbrämt mit vielen stilistischen Preziosen wiederholt.

Der Gestus des Selbstbewusstseins in Karschs Briefen, das nimmermüde, geduldige Weiterschreiben, das allerdings die umfänglichen Korrespondenzen des 18. und 19. Jahrhunderts für uns heute so rätselhaft erscheinen lässt – dies macht die Korrespondenz zu einem herausragenden Zeugnis der bürgerlichen Briefkultur des 18. Jahrhunderts. Auf Tausenden von Seiten findet sich eine Enzyklopädie der Lebenspraxis und des Weltwissens, böten sich nur Mittel und Wege, solche Textmengen überhaupt semantisch zu erschließen.

Jon Helgasons Monografie erinnert einmal mehr an die Korrespondenz zwischen Karsch und Gleim, wertet aber nur einen kleinen Teil der gedruckten Briefe aus. Es ist, wie gesagt, nicht unproblematisch, von den Briefen auf die Authentizität der Empfindungen ihrer Schreiber zu schließen – auf der Ebene des Handelns ist jedenfalls allzu wenig zwischen ihnen passiert. Ihre Korrespondenz steht für die Funktion der Briefkultur im 18. Jahrhundert als mehr diskursive denn als soziale Praxis. Besser nachvollziehbar ist es mithin, wenn Helgason auf das Rollenspiel der Briefschreiber verweist. Im Kreis um Gleim sind derartige Spiele längst literarische Konvention, Karsch wird die Rolle der Sappho aufgedrängt. Sie macht aber, so Helgason, eine andere Sappho aus ihrer Briefpersona, als es der Adressat in Halberstadt gern sähe, eine passionierte, von ungehemmter Inspiration gekennzeichnete Dichterin, die auf die Genieepoche vorausweist. Karsch kennt Edward Young, einen Anreger der späteren deutschen Genies um Herder und Goethe, ihre Gefühlsausbrüche sind moderner als Gleims literarische Behäbigkeit, die in den 1760er-Jahren schon an Reiz eingebüßt hat. Karschs Ich-Konstitution im autobiografisch erzählenden Brief zu vermitteln ist ebenso Helgasons Anliegen wie auf die Grenzüberschreitung zwischen Freundschafts- und Liebesbrief hinzuweisen.

Dabei arbeitet er viel Beiwerk ein, darunter nicht zuletzt literaturgeschichtliches Handbuchwissen, das in einer Monografie keinen Platz beanspruchen kann. Helgason verwehrt sich selbst die Chance, eine wahrhaft eigenständige Untersuchung des recht sperrigen Briefwechsels vorzulegen. Belege hierfür sind die eher spärlichen und dann oft wenig trefflichen Zitate aus der Korrespondenz, die nicht den Eindruck vermitteln, hier würden repräsentative oder zentrale Interpretationsgrundlagen geschaffen. Zitierfehler und andere Irrtümer sind nicht selten: Aus Christian Fürchtegott Gellert wird „Christian Fürchtegott“, aus Nikolaus Wegmann ein deutscher Soziologe, vermutlich wurde Weg- mit Luh- verwechselt. Reizvoll wäre es gewesen, die immer wieder herangezogene schwedische Forschungsliteratur, die auf eine zeitgleiche Empfindsamkeit in Schweden hindeutet, dem deutschen Leser in komparatistischer Absicht näher zu bringen. Leider bleibt wenig hinzuzufügen, vielleicht bis auf die Anmerkung, dass sich der Wallstein Verlag, der viel für die wissenschaftliche Rekonstruktion dieser nur auf dem Papier glückenden Paarung getan hat – unter anderem die Edition des Briefwechsels ist ihm zu verdanken –, mit diesem Band kein weiteres Ruhmesblatt erworben hat.

Titelbild

Jon Helgason: Schriften des Herzens. Ausdruck in der Briefkultur des 18. Jahrhunderts im Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Ludwig Gleim.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Jana Mohnike.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
325 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310209

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