In Polen B.

Daniel Odija schreibt in seinem Roman „Auf offener Straße“ über die Verlierer der Transformation

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Transition, Transformation: Nachdem diese und ähnliche Begriffe in den 1990er-Jahren in aller Munde waren, sind sie inzwischen im öffentlichen Diskurs wieder deutlich seltener zu vernehmen. Dabei darf man annehmen, dass die Länder Ostmittel- und Osteuropas weiterhin in einem Prozess des Übergangs begriffen sind; jedenfalls ist die Geschichte mit dem Fall der kommunistischen Regime um 1989/90 nicht an ein Ende gelangt, wie es manche Theoretiker prophezeit hatten. Die neusten Entwicklungen etwa in Ungarn und Rumänien scheinen zu bestätigen, dass die Suche nach der gewünschten Ausformung der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Systeme nach wie vor im Gang ist und außerdem äußerst umstritten sein kann.

Auf dem Hintergrund der Transition sind auch die Werke des polnischen Autors Daniel Odija angesiedelt. Odija ist im deutschsprachigen Raum zuerst mit seinem Roman „Das Sägewerk“ (siehe Literaturkritik 10/2006) bekannt geworden. Schon in dieser Geschichte über einen initiativen Unternehmer, der aber schließlich aufgrund widriger Umstände und nicht zuletzt der Missgunst seiner Umgebung scheitert, hat sich der Autor der polnischen Peripherie zugewandt. Nun ist auch Odijas Erstling „Auf offener Straße“ auf Deutsch erschienen, und dies erneut in der bewährten Übersetzung von Martin Pollack. Nach seinem Erscheinen 2003 in Polen hatte der Roman für Furore gesorgt: Zu skandalös erschienen manchen die von Odija geschilderten Zustände in einer Kleinstadt im polnischen Norden.

Die Ulica Długa, die Lange Straße, gibt dem Buch ihren Titel. Sie ist in gewisser Hinsicht die eigentliche Heldin des Romans, indem sie nämlich zunächst einmal die Einheit des Ortes bestimmt und gewährleistet. Dabei handelt es sich im Grunde genommen um eine kurze Straße, die überdies nicht zur Repräsentation taugt: Für eine Prachtmeile fehlen dieser kleinstädtischen Hauptgasse sämtliche Merkmale. Odija porträtiert eine Reihe von Bewohnerinnen und Bewohner der Langen Straße, deren Geschichten bisweilen nur locker miteinander zusammenhängen.

Für diejenigen Teile Polens, welche vom Segen der neuen Epoche nicht profitieren können, hat sich im polnischen Diskurs der letzten Jahre der Begriff „Polen B“ eingebürgert. Es sind dies meist ländliche Gebiete, vorab die Regionen im Norden und Osten des Landes. Odija behandelt in seinem Roman besonders die wirtschaftlichen und sozialen Probleme dieses Polen zweiter Klasse: Arbeitslosigkeit, Diebstahl, Prostitution, allgegenwärtige Gewalt (auch diejenige durch Fußballfans), Alkoholismus, die abgestellte Gasversorgung, unerwünschte Schwangerschaften, die allgemeine Orientierungslosigkeit und nicht zuletzt die moralische Verkümmerung. Hie und da gibt es zwar bei den Menschen – wie auch schon im Roman „Sägewerk“ – zumindest den Ansatz einer Bereitschaft etwas zu verändern. Doch scheitern solche Pläne meist an der Passivität oder dem Neid der Umgebung. Und wenn etwas davon umgesetzt wird, ist der entwickelte Geschäftssinn von ethisch zweifelhaftem Charakter: Geld wird allenfalls mit Prostitution und Stehlen gescheffelt. Offen bleibt deswegen im Roman letztlich die Frage, wie viel Hoffnung denn nun in diesem Polen B noch vorhanden ist. Auch diejenigen, die sich nach dem Verlust geistiger und moralischer Leitplanken in die Esoterik flüchten, taugen jedenfalls nicht als leuchtende Beispiele.

In gewissem Sinne merkt man dem Buch freilich ein wenig an, dass es bereits 10 Jahre alt ist – die Frage wäre nämlich, inwieweit die von Odija gestellte Diagnose auch heute noch ihre Gültigkeit hat. Immerhin ist zu vermuten, dass der Skandal um dieses Buch – würde es heute veröffentlicht – wohl weniger virulent ausfallen würde. Das müsste freilich nicht automatisch bedeuten, dass es dieses Polen B nicht mehr gibt. Schon eher müsste man annehmen, dass sich die Leserschaft in Polen inzwischen auch an diese pessimistische und drastische Strömung in der neusten Literatur gewöhnt hat.

Odija verwendet in seinem Erstling eine nüchtern-dokumentarische Sprache insofern, als er versucht, die Verhältnisse in der polnischen Provinz unzensiert wiederzugeben. Er verschließt nicht die Augen vor den problematischen Seiten der neuen Zeit, dem Niedergang der Peripherie und dem Zerfall der Sitten. Auf der anderen Seite – und auf den ersten Blick durchaus im Widerspruch dazu – strahlt der Roman aber auch eine große poetische Kraft aus.

Von besonderem Interesse ist die Ausgestaltung des zeitlichen Faktors in Odijas Erzählen. Die Erzählgegenwart entspricht in etwa dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans, um das Jahr 2000 herum. Die Zeit scheint zum einen beinah stillzustehen – die Kleinstadt ist in ihrem Niedergang erstarrt, Auswege zeichnen sich kaum ab. Auf der anderen Seite schreitet die Zeit doch voran, wenn auch nur langsam, schleichend und ziellos: Von den Prostituierten etwa wird berichtet, dass sie älter werden und immer mehr Mühe haben, von ihrem Gewerbe leben zu können. Und einer aus dem Dorf wird geschäftstüchtig, indem er im Ausland technische Gerätschaften klaut und diese in Polen weiter verkauft. Dennoch tritt das Erzählen auf der anderen Seite gewissermaßen an Ort und Stelle – niemandem gelingt es, aus den Verhältnissen wirklich auszubrechen. „Auf offener Straße“ verfügt über keinen eigentlichen Plot, der das Erzählen in eine bestimmte Richtung hin vorantreiben würde. Odija porträtiert in kurzen Kapiteln – einer Art Vignetten – eine ganze Reihe von durchaus auch unterschiedlichen Bewohnern der Stadt. Auf das Ganze des Romans gesehen sind die einzelnen Kapitel durch viele Fäden miteinander verbunden, die oft allerdings nicht bis zum Ende weitergezogen werden: Die einzelnen Fäden werden immer wieder unterbrochen und setzen später wieder ein; bisweilen verlaufen sie aber auch im Sand und verschwinden für immer. Auch die porträtierten Menschen tauchen aus der Gruppe auf, werden dann vom Erzähler unter Umständen fallengelassen und gelangen zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht erneut an die Oberfläche des Texts. Dadurch entsteht eine Art Teppich, freilich ohne durchgehendes Muster: Letztlich wird in einer Art gleichzeitigem Nebeneinander der Faktor Zeit ganz aufgehoben. Wie auch die Figuren des Romans, so hat das Erzählen keinen télos, es kennt kein Endziel, auf das es konsequent zulaufen würde.

Im Hinblick auf das Handwerkliche des Romans verdient auch die Erzählperspektive Erwähnung. In ihr manifestiert sich eine Art kollektives Bewusstsein der Kleinstadt, das nur über einen eingeschränkten Blickwinkel verfügt und in dem immer wieder bestimmte vorgefasste Meinungen aufblitzen. Diese färben dann quasi nebenbei die dargestellte Welt durch Bewertungen und Urteile ein, die oft weit ab von politischer Korrektheit angesiedelt sind. So werden etwa die „Zigeuner“ in und durch diese Perspektive im Text marginalisiert – was zugleich dazu dient, ihren realen Platz in der Gesellschaft der kleinen Stadt anzudeuten. Im Hinblick auf die Kirchen verschiedener Konfessionen im Ort wiederum wird eine klare Hierarchie aufgebaut: Den in der Kleinstadt erst seit neustem in Erscheinung tretenden Pfingstlern – auch sie eine Begleiterscheinung der Transition – begegnet die (nominell) katholische Mehrheit mit unverhohlenem Misstrauen.

Worin liegt aber dann das Poetische dieses Romans? – Man kann zunächst ganz allgemein antworten: In einer Überhöhung der Fakten, die auf vielfältige Art und Weise realisiert wird. Zu nennen wären dabei besonders das metaphysisch-magische Element sowie nicht zuletzt die metaphorische Kraft. – Daniel Odija verknüpft den dokumentarischen Grundcharakter, die realistischen und mitunter naturalistischen Elemente seines Romans mit einer metaphysischen Komponente. So etwa wird der Wind als unsichtbare magische Kraft in den Roman eingeführt, die das Geschehen mitzubestimmen scheint. Ein besonderer Wechselbezug besteht auch zwischen Menschen, Tieren und Landschaft. Die Stadt liegt auf einem früheren Friedhof; in den ersten Zeilen des Romans schildert Odija, wie die Toten zu Allerseelen gleichermaßen durch die Stadt ziehen. Hier wird ein ästhetisches Programm angedeutet, dem Odija später im Roman mehrfach nachkommen wird: Es scheint, dass zwischen (toten und lebenden) Menschen, Tieren und der Umgebung eine enge Verbindung hergestellt werden soll. Sie alle stehen gewissermaßen auf der gleichen Ebene, sind einander ebenbürtig, und bisweilen entsteht gar der Eindruck, sie könnten sich wechselseitig ineinander verwandeln: die Tiere in Menschen, die Landschaft in Tiere, und so weiter.

Mehrfach öffnet Odija in seinem Roman eine metaphorische Dimension, welche die dargestellten Begebenheiten in einen zusätzlichen Horizont hinein stellt. Hier wären zunächst die Träume zu erwähnen, denen mehrere Einzelkapitel gewidmet sind. Es sind Träume, welche die verschiedenen Figuren „besuchen“ oder besser: heimsuchen. Sie stellen Interpretationsangebote für das Erlebte zur Verfügung oder reflektieren alternative Lebensentwürfe, sie können gleichermaßen die Form von Albträumen wie auch von Wunschträumen annehmen. Im Weiteren kann man sich fragen, inwieweit die „Lange Straße“ auch für den Weg stehen kann, den die polnische Gesellschaft insgesamt eingeschlagen hat, den tatsächlichen eben, nicht den allenfalls wünschenswerten.

An dieser Stelle soll aber ein anderes Beispiel näher beleuchtet werden. Das Kapitel „Der Birnbaum“ kann als Gleichnis gelesen werden, als ein Kommentar auf die durch den Kommunismus geprägte Mentalität und das Verhalten der Menschen nach dem Zerfall der früheren Ordnung. In einem Hof an der Langen Straße wächst ein Birnbaum, der niemandem gehört. Zwei Anwohnerinnen streiten sich jedes Jahr um die Früchte. Dem Anwohner Cegielski wird das Gezänk schließlich zu viel: „Cegielski schnaufte heftig und schlug die Axt in den Baum. Die Frauen verstummten. Die Brylska kam aus dem Haus gelaufen, und alle drei standen nebeneinander. Zum ersten Mal seit langem scheinbar in stummer Übereinstimmung. Es dauerte eine Weile, bis Cegielski sein Werk vollendet hatte. Keine wagte es, ihn zu unterbrechen. Sie hatten Angst, denn sein Gesicht war schrecklich. Schweißüberströmt. Der Baum strömte krachend mitten in den Hof.“ – Man kann dies so interpretieren: In der sozialistischen Gesellschaft gab es keinen Privatbesitz. Zumindest der Theorie nach gehörte alles allen; alle sollten einvernehmlich Anteil haben an den Früchten der Arbeit und der Natur. Nach dem Systemwechsel hin zur Marktwirtschaft könnte das Allgemeingut nun eigentlich gerecht aufgeteilt werden – doch es entbrennt Streit, und zu guter Letzt wird das Volkseigentum verscherbelt, ja zerstört.

Diese Szene steht literarhistorisch in einem größeren Kontext. Das Fällen eines Baums – ohnehin ein Akt von hoher Symbolkraft – ist auch eine Schlüsselszene in einem Roman von Edward Redliński aus dem Jahr 1973. Redliński als Vertreter der bäuerlichen Richtung in der polnischen Literatur der Nachkriegszeit ist mit Gewissheit einer der „Ahnen“ von Daniel Odijas Prosa. In Redlińskis Roman „Konopielka“ besteigt der Ich-Erzähler Kaziuk einen Baum, um des Nachts in das Schlafzimmer der neuen Dorflehrerin zu schauen. Kaziuk beschließt dann jedoch, den Baum zu fällen, damit es ihm niemand gleichtun kann. Der Beweggrund ist mithin ein ähnlicher wie in Odijas „Auf offener Straße“: Der Baum wird eliminiert, damit etwas Bestimmtes nicht mehr geschehen kann. Gehandelt wird hier nicht aus einer positiven Motivation heraus, sondern um jemand anderem das Handeln zu verunmöglichen.

Odijas Roman handelt von der polnischen Peripherie, die von den Segnungen der heutigen Zeit nicht profitiert. Indem er sich den Verlierern der Transition zuwendet, sorgt der Autor zumindest dafür, dass diese nicht ohne literarische Repräsentation bleiben. Darin liegt gewissermaßen die „soziale“ Bedeutung von Odijas Buch. „Auf offener Straße“ vermag aber vor allem in literarischer Hinsicht zu überzeugen: Odija hat die Verhältnisse in der polnischen Kleinstadt in einer Sprache gestaltet, die zum einen realistisch, anschaulich und direkt ist, zum anderen aber auch über eine große poetische Kraft verfügt.

Titelbild

Daniel Odija: Auf offener Straße. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Martin Pollack.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
141 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055339

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