Anleitung zum Fantasiereisen

Frank Jacobs hat seltsame Karten gesammelt und einen „Atlas kartographischer Kuriositäten“ zusammengestellt

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Links wogt wild das Meer, kleine Schaumberge türmen sich auf, rechts ruht ein runder Teich. Mitten durch das Land fließt ein dünner Fluss, der in ein seltsam stilles, unheimliches Meer führt: „La Mer Dangereuse“ – das gefährliche Meer. Der Weg des Wanderers, der sich nach dieser Karte richtet, beginnt unten, im Süden in einer Stadt names „Nouvelle amitié“ (Neue Freundschaft). Er führt entweder nach links über die kleinen Ortschaften Complaisance (Gefälligkeit) und Petits Soins (Kleine Aufmerksamkeiten) bis zu dem Ort Constante Amitié (Dauerhafte Freundschaft). Oder es geht über Indiscretion und Perfidie zur Meschanceté (Bosheit). Oder man geht nach rechts. Geht über Grand Esprit (Großer Geist), Jolis Vers (Schöne Verse) und Billet galant fast gradlinig nach Tendre-sur-Estime (Zärltich-an-der-Wertschätzung). Da muss man nur aufpassen, dass man nicht auf Abwege kommt, und über Tiédeut (Lauheit) und Légereté (Unbesonnenheit) im Lac d’Indifference landet. Immer eine kipplige Sache, so ein Spaziergang durch die Gefühle.

Diese alte „Kartographie des Herzens“ aus dem 17. Jahrhundert ist eine symbolische Karte – aber vielleicht ist sie ja exakter als manche andere, nur scheinbar genaue Karte. Schon Mercator hat ja Orte erfunden, weil er sie nur vom Hörensagen kannte. Oder die wunderschöne rosa und gelb kolorierte Karte der höchsten Berge der Welt, von 1831, die völlig falsch ist. Andere sind schlicht beeindruckend, wie die Propagandakarte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, eine Illustration des Anakonda-Plans von Generalleutnant Scott, wo eine riesige schwarze Schlange auf „Scott’s Great Snake“ den Süden erwürgt. Mit vielen schönen Details: Da sieht man in Virgina eine phrygische Mütze auf einer Fahenstange, seit 1798 das Symbol der Freiheit. In New York ist ein geflügelter Helm (Symbol für Hermes, den Gott der Kaufleute) zu sehen, mit der Aufschrift „Free Trade“. Überall sieht man Männchen, die Sklaven oder Sklavenjäger darstellen, viele mit Sprechblasen versehen.

Frank Jacobs hat viele solcher opulent illustrierter Abstrusitäten gesammelt, die Kleeblatt-Welt oder die U-Bahn-Weltkarte, die vom US-Bundesstaat Sequoyah, den es beinahe gegeben hätte: Als Oklahoma 1907 der USA beitrat, versuchten Vertreter der „Five Civilized Tribes“, sich einen eigenen Bundesstaat zu geben, eben Sequoyah, benannt nach einem prominenten Cherokee, der anfang des 19. Jahrhunderts das noch heute verwendete Alphabet der Stammessprache entwickelte. Obwohl sie breit unterstützt wurden, konnten Politiker aus den Oststaaten Präsident Theodore Roosevelt unter Druck setzen, dass er diesen Plan vereitelte.

Durch solche Erläuterungen und Bemerkungen von Jacob ist das Buch auch für historisch und kulturhistorisch Interessierte von Interesse. Vieles ist auch einfach zum Lachen, und bei manchen Karten bekommt man träumerische Augen, und man versteht, dass Karten vieles sind: Nicht nur Möglichkeiten, von A nach B zu kommen, sondern auch Metaphern. Und, und das sollte man nicht vergessen, Anleitungen zum Fantasiereisen.

Titelbild

Frank Jacobs: Seltsame Karten. Ein Atlas kartographischer Kuriositäten.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2012.
124 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783935890984

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