„Ohne Verdienst unbelastet“?

Ein Buch unterzieht große Geister einer kleingeistigen Sprachkritik: Wolfgang Beutin stellt preisgekrönte Autoren vor

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie erhaben sind preisgekrönte Autoren über Sprach- und Stilkritik? Das ist der Ansatzpunkt des Buches von Wolfgang Beutin. Es nimmt sprachkritische Untersuchungen an mehrfach und hoch ausgezeichneten Autoren vor. Diese Frage betrifft vornehmlich das Verhältnis von Ästhetik und Kanonizität. Sichert der Stil den Nachruhm, auch den zu Lebzeiten? Hält das kanonische Werk der sprachkritischen Überprüfung stand? Und weiter gefragt: Wie genau muss die Sprache der Schönen Künste sein, und wie schön kann eine genaue Sprache noch sein?

Auf dem Weg zu wissenschaftlich haltbaren Antworten verliert sich Wolfgang Beutin jedoch in allzu detaillierten Aufzählungen grammatischer Schnitzer und semantischer Missverständlichkeiten. Dadurch wird eine merkwürdige Schieflage zwischen nachträglicher Fehlerkorrektur im Werk und kanonischem, quasi preisgesichertem Rang des Autors erzeugt. Das könnte satirisch sein, wäre da nicht ein Funke des puristischen Ernstes, der Sprache als Abdruck der Weltanschauung versteht, die dann natürlich ebenso reingewaschen von Irrtümern sein sollte, wie die Worte, in der sie zum Ausdruck komme.

Im Falle Paul Heyses, eines heute beinahe vergessenen Nobelpreisträgers, überzeugt Beutins Kritik zwar im einzelnen: Schon früh wurde seinen Werken attestiert, dass darin nur die Worte rauschen, nicht der Wald. Nun, mit einem so forcierten Stil, mit solchen Bildungsreminiszenzen, mit Epigonalität steht dieser Autor von Novellen und Romanen, der das „Wirkliche zur Schönheit läutern“ wollte, im ästhetischen Wettstreit tatsächlich längst auf verlorenem Posten. Aber für eine literaturgeschichtliche Neuwertung oder eine kanonkritische Revision ist eine reine Sprachkritik zu wenig.

Noch einseitiger verfährt Beutins Sprachkritik bei Golo Mann. Der historische Ort von Manns Wallstein-Biografie und seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ wird ebenso wie die weltgeschichtliche Perspektive dieser Bücher ignoriert. Es wäre ratsam gewesen, Golo Manns Formel vom Ersten Weltkrieg als der „Mutterkatastrophe des Jahrhunderts“ zunächst einmal als intelligentes Sprachbild zu würdigen, bevor man grammatische Anschlussfehler ankreidet, „Geschichtsbelletristik“ rügt und „Gallettianismus“ beanstandet, Kathederblüten nach Art des Gothaer Historikers und Pädagogen Johann Georg August Galletti, eines Zeitgenossen Goethes (der sich nicht an eine einheitliche deutsche Hochsprache gebunden fühlen konnte, weil es diese damals zwar schon auf der Bühne, aber noch nicht im Duden gab).

Auch Ernst Jünger bekommt sozusagen sein Fett weg. Natürlich gibt es eine bellizistische Ader in dessen Werk, schockierende Sätze und brandgefährliche Ideen. Doch auch Beutins Sprachkritik im Jünger-Kapitel mangelt es an Kontextualisierung und an Differenzierung. „Aus allen Büchern Jüngers träufelt das Menschenblut“, schreibt Wolfgang Beutin. Das ist ein mittelschweres Missverständnis, das selbst der Kritik und der Unterscheidung zwischen Bildausdruck und Sachverhalt bedarf. Es sei – so Stefan Andres 1948 über Ernst Jünger – „etwas anderes, den Krieg mit Tinte zu bejahen als mit seinem eigenen Blut“.

Und so fallen auch die sprachkritischen Versuche über Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Günter Grass und besonders über Herta Müller (deren sprachkritischer Impetus gegen die Wortherrschaftsansprüche der Diktatur reichlich verkannt wird) hinter den literarhistorischen Standard zurück, Sprache, Dichtung und Ästhetik in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Recht hat Wolfgang Beutin da, wo er das, was der Schriftsteller schreibt, am Anspruch der Genauigkeit des sprachlichen Ausdrucks misst. „Der Schriftsteller, der seine Sätze nicht foltert, foltert den Leser“ (Dávila). Zu kurz greift er da, wo er Zitate aus dem Kontext reißt, um von deren grammatischer Unvollkommenheit auf die vermeintliche Überschätzung des Autors zu schließen. Heinrich Böll wird nicht weniger nobelpreiswürdig, wenn man ihm vorhält, wie hilflos er bisweilen mit den Vokabeln für den menschlichen „Paarungsvorgang“ umgegangen ist. Zu einer „Sittenlehre der Sprache“ (so Brecht in einem Brief an Karl Kraus) gehört auch der jeweilige Sitz im Leben des literarischen Werks.

In dem Kapitel über Günter Grass gelingt es Beutin zwar, an einzelnen Stellen Ideologie, Kollektivanklage, unzulängliche Sprache und metaphorische Übercodierung des Stils nachzuweisen und beispielsweise an der verfänglichen Formulierung „ohne Verdienst unbelastet“ aus der „Rede von der Gewöhnung“ – die Grass 1967 in Israel gehalten hat! – die Selbstexkulpationsstrategie des Autors aufzuzeigen. Das diffizile „Verschweigen des Schweigens“ (Dieter Wellershoff) über das SS-Kapitel in Grass’ Biografie – die „Lügende“ Grass, wie es in einer halb fehlerhaften, halb sprachspielerischen Schreibweise der Grass-Legende heißt – wird damit aber nicht erklärt. So fehlt dem Buch denn auch eine tiefere Erklärung für die erstaunliche in- und ausländische Wirkungsmacht des Werkes. Petra Morsbach hat in ihrer Studie „Über die Wahrheit des Erzählens“ (2006) auf ungleich subtilere Weise nachgewiesen, wie Grass in der „Blechtrommel“ ein „grandioses“ Erzähler-Ich in die Welt schickt, um Defizite von „Angst und Scham“ zu kompensieren.

So bleibt hier – wie auch in Beutins Studie über den „Fall Grass. Ein deutsches Debakel“ (2008) – ein gespaltener Eindruck: eine allzu detailversessene Streitschrift über manche streitwürdige Werke, die diesen jedoch kaum Zacken aus der Krone zu brechen vermag. Allzu kleingeistig kommt diese Sprachkritik daher.

Titelbild

Wolfgang Beutin: Preisgekrönte. Zwölf Autoren und Autorinnen von Paul Heyse bis Herta Müller. Ausgewählte Werke, sprachkritisch untersucht.
Peter Lang Verlag, Frankfurt, M. ; Berlin ; Bern ; Bruxelles ; New York, NY ; Oxford ; Wien 2012.
360 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783631632970

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